Euro-Debatte:Warum Europa noch enger zusammenrücken muss

Wenn wir Europäer unsere Währungsgemeinschaft langfristig sichern wollen, dann brauchen wir eine föderale Union mit gemeinsamer Haftung.

Von Jean Tirole

Den Gründungsvätern der Europäischen Union gelang es, in den turbulenten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, eine langfristige Vision zu entwickeln. Und sie schafften es, politische Unterstützung zu bekommen, um Europa aufzubauen. Diesen Weitblick brauchen wir heute wieder, um die Bedingungen für den Fortbestand der Euro-Zone zu definieren.

Vereinfacht ausdrückt, gibt es heute zwei Strategien für die Euro-Zone: Die gegenwärtige Maastricht-Variante beinhaltet formal eine begrenzte Risikoteilung, da Mechanismen zur Stabilisierung einer notleidenden Volkswirtschaft fehlen. Die Variante zielt darauf ab, Bail-outs - also die Schuldenübernahme durch Dritte - zu vermeiden, indem Haushaltspläne überwacht werden und die Kreditaufnahme die Sache einzelner Staaten ist.

Die etwas ehrgeizigere föderalistische Alternative führt dazu, dass das Risiko verteilt wird. Eine Blaupause für den Föderalismus ist die Bankenunion. Sie stellt einen wichtigen Schritt hin zur Risikoteilung dar, vorausgesetzt, sie wird von einer gemeinsamen Aufsicht und einer Einlagensicherung für Sparguthaben begleitet.

Ich frage mich allerdings, ob sich die Europäer und ihr politisches Führungspersonal im Klaren darüber sind, was erforderlich ist, damit einer der beiden Ansätze in die Tat umgesetzt wird. Hier sind unsere Möglichkeiten:

Der Maastrichter Ansatz greift in die Souveränität der Mitgliedstaaten nur insofern ein, als Haushaltsdefizite und Schulden überwacht werden. Bail-outs schließt er formal aufgrund der Sorge aus, dass sie Staaten zu laxem Verhalten anreizen könnten. Aber so eine strenge Regel ist nicht "zeitbeständig", um es in der Sprache der Ökonomen zu sagen. Das heißt, die EU-Staaten zeigen (und zeigten), wenn sie vor vollendete Tatsachen gestellt werden, Solidarität mit dem notleidenden Land. Sie fürchten, die Probleme könnten auf ihr eigenes Land übergreifen - ökonomisch, weil sich das Handelsvolumen verringert und Tochtergesellschaften sowie Banken in Mitleidenschaft gezogen werden könnten, und nicht-ökonomisch, weil die Menschen Empathie zeigen und das europäische Einigungswerk in Gefahr ist.

Drei Thesen

Das Problem ist: Das Euro-Projekt steckt in einer historischen Krise

Gescheitert ist: Die Strategie, den Staaten ihre Souveränität weitgehend zu lassen

Nötig sind: Eine gemeinsame Kreditaufnahme und gemeinsame Budget-Planung

Strenge Regeln mit schwacher Durchsetzungskraft

Aber diese informelle, im Nachhinein gezeigte Solidarität ist zwangsläufig limitiert. Stabilere Länder haben wenig Interesse daran, riskanteren Ländern zusätzliche Sicherheiten zum Beispiel in Form von Darlehen mit gesamtschuldnerischer Haftung zu geben. Denn letztere können erstere nicht für die Bereitstellung der Sicherheiten kompensieren, ohne noch mehr Kredit aufzunehmen.

Der Maastricht-Ansatz ist insofern gescheitert. Die Kombination strenger Regeln mit sehr schwacher Durchsetzungskraft ist eine explosive Mischung. Die Wahl einheitlicher Grenzen (60 Prozent Schuldenquote) für alle Länder, ist zwar politisch verständlich, weil niemand diskriminiert werden soll. Sie macht die Dinge aber nicht einfacher.

Finanzminister sind daran gescheitert, Fehler zu sanktionieren

Es gibt keine Zauberformel für die Schuldentragfähigkeit. Was tragfähig für ein Land ist, muss es nicht für ein anderes Land sein, da der Messwert von einer Reihe von Faktoren abhängt: Die Schulden eines Landes sind umso tragfähiger, je länger die Laufzeit und je niedriger die Zinsen sind; sie sind es, je höher das Steueraufkommen und die Steuererhöhungsmöglichkeiten sind, je stärker die Wachstumsrate ist und je höher der Anteil der inländischen Schulden sind (Deswegen besteht so wenig Beunruhigung über die 230-prozentige - größtenteils inländische - Verschuldung Japans).

Zweitens ist es schwierig, die tatsächliche Verschuldung eines Landes zu messen, besonders was nachrangige Schulden anbetrifft: ungedeckte Pensionen, Bürgschaften an öffentliche Unternehmen oder Gewährleistungen für soziale Sicherungssysteme, ganz zu schweigen von potenziellen Verlusten durch Garantien der Europäischen Zentralbank oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus.

Euro-Debatte: Illustration: Lisa Bucher

Illustration: Lisa Bucher

Drittens und entscheidend sind die Finanzminister der Euro-Zone daran gescheitert, die vielen Verletzungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu sanktionieren. Was keine Überraschung ist. Den Finanzministern widerstrebt es, den Zorn eines vertragsverletzenden Landes auf sich zu ziehen für eine Intervention, die an der gemeinsamen Entscheidung wahrscheinlich ohnehin nichts ändert. Auch die politische Agenda ist dabei von Bedeutung; das sonst sehr legitime Ziel des fortschreitenden europäischen Einigungsprozesses wurde oft beschworen, um bei zweifelhafter Buchführung oder unzureichender Vorbereitung vor dem Eintritt in die Euro-Zone ein Auge zuzudrücken.

Stimmung gegen Erneuerung von Maastricht

Zu guter Letzt werden von allen Verhandlungspartnern Vereinbarungen erwartet, die auf Gegenleistungen beruhen. Neulich konnte man diesbezüglich zwar kleine Fortschritte bei der Festsetzung der Haushaltspolitik erkennen, aber wie wirksam diese Maßnahmen sind, muss sich erst erweisen. Denn Europa hat keine Befugnis, deren Durchsetzung zu erzwingen oder präventiv einzugreifen.

Angesichts der Tatsache, dass der politische Prozess folglich nur unwahrscheinlich das gewünschte Ergebnis herbeiführt, bedarf der Maastricht-Ansatz scheinbar eines hoch professionellen und unabhängigen Rates für Budget-Angelegenheiten. Im Gegensatz zum 2011 initiierten Haushaltspakt, müsste dieser Budget-Rat europäisch sein. Und der Rat müsste dazu imstande sein, unverzügliches und korrektes Handeln durchzusetzen. Weil finanzielle Sanktionen ineffizient sind, wenn ein Land pleite ist oder in der Rezession steckt, wären alternative Maßnahmen nötig, was wiederum die Sorgen um die Rechtmäßigkeit und Eigenstaatlichkeit noch verstärken würde. Überhaupt spricht die gegenwärtige nationalstaatliche Stimmung gegen eine Erneuerung des Maastricht-Ansatzes.

Die Euro-Debatte

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Der föderalistische Ansatz beinhaltet unvermeidlich eine wesentlich größere Risikoteilung. Eine Vertiefung der Integration würde bedeuten, Europas Staaten gemeinschaftlich haftbar für die Schulden eines anderen Landes zu machen, mithilfe von Euro-Bonds. Ein gemeinsames Budget, eine gemeinsames Einlagensicherung und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung würden als automatische Stabilisatoren fungieren, sie würden den Staaten mehr Schutz bieten und der gewünschten No-Bail-out-Politik mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Erinnern wir uns daran, dass die US-Regierung bereits in den 1840er-Jahren damit aufhörte, für die Schulden oder Verbindlichkeiten eines anderen Bundesstaates zu haften.

Die föderalistische Vision setzt zwei Dinge voraus. Erstens wird jeder Versicherungsvertrag normalerweise hinter dem "Schleier des Nichtwissens" unterzeichnet. Wenn mein Haus brennt, schließen Sie keine Hausratsversicherung mehr mit mir ab. Aus diesem Grund ist es politisch wohl unmöglich, mit den nördlichen Ländern Europas ein großes Ausmaß an Risikoteilung zu vereinbaren. Die gegenwärtige Asymmetrie zwischen nördlichen und südlichen Ländern könnte aber vielleicht gelöst werden, indem man die Altlasten identifiziert und zu beseitigen versucht. Das ist schwierig und komplex, aber möglich. Man könnte zum Beispiel beim Aufbau einer europäischen Einlagensicherung auch den Umgang mit Verlusten aus den Altlasten notleidender Banken regeln, etwa durch die Gründung von Bad Banks, die unter der Verantwortung der einzelnen Staaten stehen.

Bevor die Staaten ihre Risiken teilen, müssen sie ihre Altlasten beseitigen

Zweitens, und wichtiger, müssen Länder, die unter einem gemeinsamen Dach der Risikoteilung stehen, gemeinsame Gesetze haben, um die Gefahr von Moral Hazard einzudämmen, also um zu vermeiden, dass sich ein Land absichtlich nachlässig verhält. Die gemeinsamen Vorschriften sollten solche Bereiche betreffen, die dazu geführt haben, dass ein Land Hilfe benötigt. Man könnte über eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung nachdenken. Die Arbeitslosenquote in den Ländern der Euro-Zone ist nur zum Teil zyklisch bedingt; sie hängt auch ab von politischen Maßnahmen wie Beschäftigungsschutz, der aktiven Arbeitsmarktpolitik oder der Höhe der Sozialabgaben. Nun wollen Länder, deren Gesetze zu fünf Prozent Arbeitslosigkeit führen, nicht solche mitversichern, die eine Quote von 20 Prozent aufweisen. Dennoch jammern viele Länder, wenn sie mehr Souveränität abgeben sollen, um gemeinsame Standards zu erreichen.

Der föderalistische Ansatz wird nicht, wie viele vorschlagen, durch einen simplen Schritt hin zu einem politischen Europa befördert werden. Länder, die politisch schmerzhafte Reformen unternommen haben, werden womöglich eine Umkehr vollziehen. Allgemeiner gesagt, jeder Mitgliedstaat wird sich sorgen, dass die große vertragliche Unvollkommenheit des politischen Europa ein Ergebnis erzeugt, das vom Zustand der Glückseligkeit noch weiter entfernt ist, als es heute der Fall ist. Über die Konsequenzen des Föderalismus muss es ein gemeinsames Verständnis geben, ehe man sich darauf einlässt.

Es ist schwierig vorherzusagen, welchen Pfad Europa einschlagen wird, um seine Misere anzugehen; vielleicht wird es eine weitere Aktualisierung von Maastricht geben. Aber wenn wir Europäer unter einem Dach zusammenleben wollen, müssen wir einen noch größeren Verlust an Souveränität hinnehmen. Und um das in diesen nationalstaatlich geprägten Zeiten zu erreichen, müssen wir das Idealbild von Europa wiederherstellen und dafür zusammenstehen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit.

Jean Tirole, 62, erhielt im Jahr 2014 den Nobelpreis für seine Analyse zur Marktmacht und Marktregulierung in Oligopolen. Er lehrt derzeit an der Universität Toulouse.

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