Ein unheimliches Geschöpf klopft seit Wochen an die Tür des Kanzleramts. Sein Name ist Bond, Euro-Bond, und seine Botschaft lautet: Alle Euro-Staaten sollen gemeinsam für ihre Schulden haften, also auch Deutschland für Italien oder Griechenland. Zunächst mochte Angela Merkel hoffen, der Spuk werde bald verschwinden, womöglich schon nach den französischen Parlamentswahlen an den kommenden beiden Sonntagen. Denn dann, so die Hoffnung, müsse der neue Präsident François Hollande seine Wähler nicht mehr mit Muskelspielen gegenüber der Kanzlerin beeindrucken.
Doch so leicht wird die Bundesregierung die Euro-Bonds nicht los. Schon fordert sie auch Italiens Premier Mario Monti. Falls die Griechen bei ihrer Parlamentswahl in anderthalb Wochen gegen Europas Sparauflagen stimmen, die spanische Bankenkrise eskaliert und die Menschen in Spar- und Schrumpfländern auf die Barrikaden steigen, dann könnten die Deutschen bald vor der Alternative stehen: Entweder sie schlucken die Euro-Bonds - oder der Euro stirbt.
Für Frankreich wäre die Einführung gemeinsamer Staatsanleihen eine Krönung seiner Europapolitik. Seit den Anfängen der europäischen Einigung war es ein Hauptziel dieser Politik, die deutsche Wirtschaftskraft zu kontrollieren und so den gefährlichen Nachbarn zu bändigen. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg lancierten die Franzosen daher die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Später machte sich Frankreich für eine gemeinsame Industriepolitik und eine europäische Wirtschaftsregierung stark. Der Wiedervereinigung stimmte es zu, weil Deutschland seine D-Mark in den Euro einbrachte. Euro-Bonds wären der logische Abschluss dieser Strategie.
Zugleich leidet die französische EU-Politik aber an einem scharfen Widerspruch. Paris will die deutsche Wirtschaftskraft in Europa sozialisieren, ohne französische Souveränität an Europa zu verlieren. Der französische Widerstand gegen ein föderales, bundesstaatliches Europa zieht sich als roter Faden durch die Nachkriegspolitik: 1952 scheiterte das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft an der Nationalversammlung in Paris. Später wehrten sich die französischen Regierungen gegen Mehrheitsentscheidungen im Brüsseler Ministerrat und gegen mehr Einfluss für das Europäische Parlament.
2005 kippten die Franzosen per Referendum Europas Verfassungsvertrag. Und im Präsidentschaftswahlkampf dieses Jahres war mehr von der Grandeur Frankreichs als vom gemeinsamen Europa die Rede. Frankreich betrachtet Europa weniger als Ziel denn als Zweck, als eine Art Podest, auf das es sich stellt, um seine Größe in der Welt zu bewahren.
Euro-Bonds zur Finanzierung der Staatsschulden ohne eine stärkere Einigung und Demokratisierung Europas aber darf es nicht geben. Wieso sollen die Deutschen für Schulden anderer Staaten haften, wenn sie nicht über deren Budget-, Wirtschafts- und Strukturpolitik mitbestimmen können? Zugespitzt formuliert: Wenn die Franzosen ihre Arbeitswoche nach 35 Stunden beenden, mit 60 Jahren in Rente gehen und Zehntausende neue Beamte einstellen, müssen dann die Deutschen für daraus folgende Defizite einstehen? Weder das Bundesverfassungsgericht noch die deutschen Wähler würden dem zustimmen.
Nun kann es aber geschehen, dass der Euro langfristig nur durch Euro-Bonds zu sichern ist. Daher muss schleunigst eine grundsätzliche Reformdebatte in der EU beginnen, die über Budget- und Wirtschaftsfragen hinausgeht. Die derzeitige Struktur mit geschwächten Brüsseler Institutionen und starken Regierungen der Mitgliedstaaten, die in endlosen Gipfelnächten nach Auswegen aus der Krise ringen, kann keinen Bestand haben.
Wenn Europa, wie die USA, Bundesanleihen ausgeben soll, muss es zum Bundesstaat werden. Hierzu gehören ein europäischer Finanzminister, ein gemeinsames Parlament, das die Budgets kontrolliert, und ein direkt gewählter Kommissionspräsident, der die Einheit des Kontinents verkörpert. Nur so werden sich die Bürger weiter mit Europa identifizieren.
Utopie? Der Lauf der Geschichte hat immer wieder Projekte ermöglicht, die kurz davor undenkbar erschienen. Kaum einer hätte Mitte der achtziger Jahre an die EU-Osterweiterung geglaubt. Sie kam dennoch. Ähnliches könnte mit einem europäischen Bundesstaat geschehen. Dafür müsste sich besonders Frankreich bewegen und akzeptieren, dass es viel mehr von seiner Souveränität abgeben muss. Grandeur ist in der Welt von morgen ohnehin nicht mehr als Nationalstaat, sondern nur noch als Europa zu erlangen.
Die Bundesregierung hingegen tut gut daran, die französischen Euro-Bonds-Vorstöße nicht mit einem schroffen "Nein", sondern mit einem ernsten "Ja, aber" zu beantworten. So kann sie Frankreich dazu zwingen, sich seinem europapolitischen Widerspruch zu stellen und auf die Frage zu antworten, was für ein Europa es eigentlich will.
Wenn der Euro und das historisch beispiellose Projekt vom geeinten Europa gerettet werden sollen, müssen seine beiden stärksten Staaten ihre kostbarsten Schätze einbringen: Deutschland sein Geld und Frankreich seine Souveränität.