Süddeutsche Zeitung

Konjunktur:Europa überwindet die Pandemie

Viele EU-Staaten haben die Wachstumsdelle durch Covid wieder wettgemacht. Deutschland ist allerdings ein Nachzügler. Die EU-Kommission erwartet nun weniger Wachstum - und viel mehr Inflation.

Von Björn Finke, Brüssel

Die Pandemie wird bald überwunden sein - zumindest aus volkswirtschaftlicher Sicht. Bis Dezember sollen auch die letzten EU-Mitgliedstaaten wieder die Wirtschaftsleistung von Ende 2019 erreicht haben: bevor also die Covid-Krise das Bruttoinlandsprodukt nahezu überall schrumpfen ließ. Das geht aus der Wachstumsprognose der EU-Kommission hervor, die am Donnerstag in Brüssel präsentiert wurde. Im vergangenen Jahr knackten bereits 20 von 27 Ländern die Prä-Corona-Marke. Zu den sieben Nachzüglern zählt Deutschland. Die hiesige Industrie leidet stark unter den weltweiten Lieferengpässen, etwa für Halbleiter.

Die Behörde senkte ihre Vorhersage für das diesjährige Wachstum in der EU leicht auf vier Prozent. Deutschland würde mit 3,6 Prozent unter dem Durchschnitt liegen, doch anders als 2021 nicht mehr Schlusslicht unter den 27 Staaten sein. Zugleich erhöhte die Kommission ihre Prognose für die Inflation deutlich. Vor drei Monaten gingen die Brüsseler Volkswirte noch davon aus, dass die Preise in der EU 2022 um 2,5 Prozent steigen werden. Nach der neuen Schätzung sollen es 3,9 Prozent sein, doppelt so viel, wie die Europäische Zentralbank (EZB) anstrebt.

"Der hohe Preisdruck dürfte bis zum Sommer anhalten", warnte Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni. "Danach dürfte die Inflation aber zurückgehen", weil Lieferengpässe behoben würden und die Energiepreise weniger zulegen sollten, ergänzte der frühere italienische Ministerpräsident. "Allerdings sind die Ungewissheit und die Risiken weiterhin hoch."

In den 19 Euro-Staaten wird die Preissteigerungsrate im ersten Jahresviertel ihren Höchststand erreichen, schätzt die Behörde: Verbraucher sollen für ihre Einkäufe im Durchschnitt 4,8 Prozent mehr ausgeben müssen als ein Jahr zuvor. Danach soll die Inflation langsam abnehmen und im kommenden Jahr wieder die Zielmarke der EZB von zwei Prozent unterschreiten.

Die Frage, wie schnell die Inflationsrate fällt, ist wichtig für die heikle Debatte, wann die europäische Notenbank in Frankfurt ihre lockere Geldpolitik straffen soll. Der neue Bundesbankpräsident Joachim Nagel kündigte in seinem ersten Interview an, im März über seine Forderungen an EZB-Chefin Christine Lagarde entscheiden zu wollen. Ändere sich das Bild bis dahin nicht, "werde ich mich dafür aussprechen, die Geldpolitik zu normalisieren", sagte er der Zeit. Die Zentralbank müsse dann noch in diesem Jahr ihre Anleihenkäufe stoppen; die Nullzinspolitik könnte ebenfalls enden.

Im März wird auch Kommissar Gentiloni wichtige Beschlüsse fassen. Denn die Kommission wird wohl Anfang dieses Monats eine Orientierungshilfe für die Haushaltspolitik der Regierungen im kommenden Jahr veröffentlichen. Eigentlich gibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt Obergrenzen für das jährliche Haushaltsdefizit von drei Prozent der Wirtschaftsleistung vor sowie eine Zielmarke für die Gesamtverschuldung des Staats von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung. Doch wegen der Pandemie hat die Brüsseler Behörde diese Regeln für solide Haushaltsführung ausgesetzt, damit Regierungen ihre Wirtschaft ungehindert stützen können.

Gentiloni hat eine frohe Botschaft für seine Heimat Italien

Anfang 2023 soll der Stabilitätspakt allerdings wieder aktiviert werden, und Prognosen zufolge werden in dem Jahr nur sieben von 19 Euro-Staaten die 60-Prozent-Marke einhalten können. Lediglich zwölf Länder können die Drei-Prozent-Vorgabe erfüllen. Die Kommission stieß im Oktober eine Reformdebatte für den Pakt an; bis Sommer will sie Vorschläge präsentieren. Aber es ist ungewiss bis unwahrscheinlich, dass diese neuen Regeln bereits zum Jahreswechsel in Kraft treten können.

Daher gilt 2023 wohl zunächst der alte Pakt - und dies würde normalerweise bedeuten, dass die Kommission hoch verschuldete Staaten wie Italien drängen muss, den Schuldenstand rasch zu senken. Der Stabilitätspakt sieht vor, dass solche Länder binnen zwanzig Jahren die 60-Prozent-Marke erreichen sollen. Italien liegt bei 150 Prozent und müsste folglich zwanzig Jahre lang völlig illusorische Haushaltsüberschüsse anstreben.

Doch offenbar will Gentiloni in seiner Orientierungshilfe im März klarstellen, dass die Behörde diese Regel nicht anwenden wird, da ja ohnehin über Reformen diskutiert wird. Dies berichtet die Nachrichtenseite Politico. Tatsächlich dürfte es nahezu sicher sein, dass die Änderungsvorschläge der Kommission für den Pakt auch die Zwanzig-Jahres-Regel betreffen werden. Der Sozialdemokrat Gentiloni sagte dazu erst diese Woche bei einer Rede an einer italienischen Universität, dass die Reformen "sicherstellen sollen, dass hohe Schuldenstände auf eine langsamere und realistischere Art verringert werden, ohne das Wachstum abzuwürgen". Das werden seine Landsleute gerne gehört haben.

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