„Wir fühlen uns in der Pflicht, etwas zu tun“, sagt vor etwa vier Wochen Deutsche-Bahn-Chef Richard Lutz – und startete zusammen mit anderen großen deutschen Unternehmen, mit dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) eine Kampagne unter dem Titel „Wir stehen für Werte“. Der Grund: die großen Sorgen vor der AfD und den Extremisten. „Extremisten gefährden all das, was wir uns aufgebaut haben“, warnte damals der Siemens-Vorstandsvorsitzende Roland Busch. Offen ist jedoch, welche Wirkung die Kampagne bislang hatte. Die Europawahl brachte jedenfalls jetzt einen deutlichen Rechtsruck nicht nur in Deutschland, sondern auch im Europaparlament.
Viele in der Wirtschaft sehe sich nun in ihren Sorgen bestätigt, allerdings hatten große Verbände vorher auch harte Kritik am Wirtschaftsstandort Deutschland und Europa geübt und so möglicherweise der Popularität von Extremisten Vorschub geleistet. „Europa braucht jetzt zügig einen Wachstumsplan“, sagte Tanja Gönner, BDI-Hauptgeschäftsführerin. Europas industrielle Wettbewerbsfähigkeit müsse in der kommenden Legislaturperiode „Top-Priorität“ haben. Ökologie und Wettbewerbsfähigkeit müssten besser ausbalanciert werden. Der Maschinenbauverband VDMA fordert in Europa eine „Koalition der Mitte“, die sich zügig auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten festlegen sollte. Die Handlungsfähigkeit der EU müsse nationalen Interessen untergeordnet werden.„Insbesondere die Entwicklungen in Frankreich dürfen nicht zu einer Blockade führen“, warnte VDMA-Hauptgeschäftsführer Thilo Brodtmann. „Der Zulauf an Stimmen für die rechtsextremen Parteien in Europa besorgt. Die Stärkung von politischen Gruppierungen, die Freiheit, Wohlstand und Frieden in Europa eher gefährden als fördern, ist ein alarmierendes Zeichen“, fügte er an.
„Der Zuwachs an den Rändern alarmiert uns“, teilte auch Markus Steilemann mit, der Chef der Dax-Firma Covestro ist auch Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Er will einen neuen Politikstil: „Pragmatismus und Schnelligkeit müssen endlich ins europäische Haus einziehen und die Bürokratie draußen vor der Tür bleiben.“ Schluss mit der ewigen Regulierung, Ja zu mehr Freiheit und Wettbewerb fordert Dirk Jandura, der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA). „Der hohe Stimmenanteil für populistische Parteien ist absolut erschreckend und zeigt, was für destruktive Kräfte auf unsere Demokratien wirken“, meinte Verena Pausder, die Vorsitzende des Startup-Verbandes. Für Start-ups sei es wichtig, dass die Kapitalmarktunion in den nächsten Monaten vorangetrieben werde. Es brauche einen offenen und liquiden Kapitalmarkt.
Populismus sei ökonomisch „sehr teuer“, warnt ein Wirtschaftswissenschaftler
Die Finanzmärkte reagierten auf die EU-Wahl und die neuen Unsicherheiten. Der Euro ging zunächst nach unten, der Deutsche Aktienindex Dax und anderen Finanzindizes in Europa ebenfalls, noch stärker aber der französische Index CAC-40. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte am Sonntag Neuwahlen angekündigt. Die Aktien von französischen Banken wie BNP Paribas, Société Générale und Credit Agricole verbuchten die höchsten Verluste. Investoren verlangten höhere Risikoprämien für den Kauf französischer Staatsanleihen, die Rendite der zehnjährigen Titel stieg zwischenzeitlich auf 3,197 Prozent. Für Frankreich könnte es so teurer werden, sich neues Kapital zu besorgen. Frankreich hat ein hohes Haushaltsdefizit. Auch Italien der Griechenland müssen bereits höhere Zinsen zahlen.
„Die Gefahr einer neuen Schuldenkrise nimmt zu“, sagte ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski der Nachrichtenagentur Reuters. Mit den Wahlergebnissen werde der Druck in vielen Mitgliedstaaten steigen, um mehr Geld auszugeben – sei es für Investitionen, sei es für Umverteilung. Die starken Verluste von Macron und der Ampel in Deutschland bedeuteten, dass sowohl die französische als auch die deutsche Regierung handlungsunfähiger geworden sei: „Noch mehr wirtschaftspolitischer Stillstand ist wahrscheinlich.“ Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer glaubt, dass bei der Parlamentsneuwahl in Frankreich nun eine proeuropäische Mehrheit nicht mehr sicher sei. „Die proeuropäischen Kräfte müssen jetzt umso mehr zusammenstehen und dürfen nicht den populistischen Sirenengesängen nachgeben“, betonte Moritz Schularick, Chef des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel. Populismus sei ökonomisch „sehr teuer“ und wirke sich negativ auf das Wirtschaftswachstum aus. Vor den negativen Effekten durch ein Zerfallen der EU warnen viele Ökonomen.
Einen anderen Standpunkt vertrat – mal wieder – Elon Musk. Der Chef der E-Auto-Firma Tesla, die ein großes Werk in Grünheide in Brandenburg unterhält, äußerte sich wohlwollend zur AfD. Die Partei werde ja als rechtsextremistisch bezeichnet, „aber die politischen Positionen der AfD, von denen ich gelesen habe, klingen nicht extremistisch“, schrieb Musk am Sonntag auf seiner Online-Plattform X (ehemals Twitter), er fügte aber an: „Vielleicht habe ich auch etwas verpasst.“