EU verzichtet auf strenge Reaktor-Tests:Berlin empört sich über Brüssel

Die Europäische Union knickt vor der Atomlobby ein - und begnügt sich mit laschen Stresstests für Atomkraftwerke. Doch in der deutschen Bundesregierung regt sich Widerstand gegen dieses Vorhaben.

Die Bundesregierung ist offenbar stark verärgert darüber, dass die Stresstests für europäische Atomkraftwerke deutlich abgeschwächt und keine einheitlichen Sicherheitsstandards festgelegt werden sollen. "Bei elementaren Fragen der Sicherheit und der Gefahrenabwehr, dazu zählen Terroranschläge oder Flugzeugabstürze, muss die EU für alle Mitgliedstaaten höchste Standards festlegen", sagte Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) der Süddeutschen Zeitung.

Berlin plant längere Laufzeit für Biblis-Meiler

Die beiden Blöcke des umstrittenen Atomkraftwerks im südhessischen Biblis, beide Mitte der siebziger Jahre erbaut.

(Foto: dpa)

Risiken machten nicht Halt an Staatsgrenzen. "Wir leben nicht auf einer Insel. In wichtigen Belangen der Sicherheit, die alle Staaten Europas betreffen, müssen daher auch einheitlich hohe Standards für alle Reaktoren gelten, in Deutschland ebenso wie bei den Nachbarn." In Europa werden 146 Atommeiler betrieben, einige befinden sich in unmittelbarer Nähe zu Deutschland oder direkt an den Grenzen. "Gerade in Bayern können wir davor nicht die Augen verschließen", sagte Aigner.

Laut einem Vorschlag der Vereinigung der Westeuropäischen Atomaufsichtsbehörden (WENRA) sollen die Tests schwächer ausfallen und fast nur Naturkatastrophen berücksichtigen. Ein EU-Gipfeltreffen hatte die Stresstests Ende März als Reaktion auf das Atomunglück im japanischen AKW Fukushima-1 vereinbart. Demnach soll die Sicherheit aller Atommeiler und kerntechnischen Anlagen in der EU "mittels einer umfassenden und transparenten Risiko- und Sicherheitsbewertung" überprüft werden.

Oettinger fordert weiter umfassende Tests

Auch EU-Energiekommissar Günther Oettinger hält daran fest, dass die Stresstests Risiken wie Flugzeugabstürze berücksichtigen müssten. Das sagte seine Sprecherin in Brüssel.

Der federführende EU-Kommissar Oettinger hatte dies präzisiert und gefordert, es müssten sowohl Naturkatastrophen als auch Risiken wie Terroranschläge, Cyberattacken und Flugzeugabstürze berücksichtigt werden. In einem am Dienstag den EU-Energieministern in Ungarn präsentierten Vorschlag der WENRA zur Ausgestaltung der Tests ist von solchen Risiken aber nicht oder nur indirekt die Rede.

Der Vorschlag zählt Erdbeben, Überflutung und "andere extreme Naturereignisse" auf. Daneben sollen Szenarien wie der Zusammenbruch der Stromversorgung berücksichtigt werden. Als mögliche Ursache des Stromausfalls nennt das Papier auch "übelwollende Akte", also nicht nur Naturkatastrophen. Der Vorschlag plädiert auch für sogenannte Worst-Case-Szenarien; dabei wird angenommen, dass Sicherheitssysteme reihenweise versagen.

Das WENRA-Papier wurde von den Energieministern nach Diplomatenangaben weder beschlossen noch diskutiert. Die endgültige Entscheidung über die Ausgestaltung der Stresstests sollen Mitte kommender Woche gemeinsam die EU-Kommission und ein weiteres Gremium treffen, die Gruppe der Europäischen Nuklear-Aufsichtsbehörden (ENSREG). In der ENSREG sind - anders als in der WENRA - auch Länder vertreten, die der Atomkraft sehr kritisch gegenüberstehen. Dazu zählt auch Österreich, von wo letztlich der Stresstest-Vorschlag stammte.

Wie verhält sich Oettinger?

Energiekommissar Oettinger dringt vor diesem Hintergrund weiter auf umfassendere Tests. "Er hält nach wie vor daran fest, dass über Naturkatastrophen hinaus auch menschliches Handeln miteinbezogen wird", sagte seine Sprecherin. Die Grünen-Chefin im Europaparlament, Rebecca Harms, erklärte: "Eine belastbare Bewertung der Sicherheit" der AKW sei anhand des WENRA-Vorschlags nicht möglich.

Neben dem Umfang der Tests ist auch die Frage der Kontrollen noch offen. Nach dem WENRA-Vorschlag sollen die AKW-Betreiber selbst "die Überprüfungen durchführen"; die Aufsichtsbehörden wiederum sollten "diese unabhängig nachprüfen". Nach Angaben aus Kommissionskreisen ist offen, inwieweit dabei nicht nur die Behörden des eigenen Landes, sondern auch ausländische Tester aktiv werden könnten. Beispielsweise sei denkbar, dass Teams mit Mitgliedern mehrerer EU-Staaten in Zweifelsfällen die Atomanlagen eines anderen Landes überprüften, um eine unparteiische Begutachtung zu sichern.

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