EU-Pharmareform:Damit der Fiebersaft nicht mehr knapp wird

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Im Labor wird getestet, ob Bakterien resistent sind gegen verschiedene Antibiotika. Dann wächst auf dem bunten Nährboden ein Bakterienfilm - auch dort, wo der Wirkstoff aus der Tablette hingelangt. (Foto: Copyright: xAndrewxBrookesx via www.imago-images.de/imago images/Image Source)

1,3 Millionen Menschen sterben pro Jahr weltweit, weil ihnen Antibiotika nicht mehr helfen. Die EU will etwas dagegen tun - und dafür sorgen, dass künftig keine Alltagsmedikamente mehr ausgehen.

Von Jan Diesteldorf, Brüssel

Der Reform geht eine Dystopie voraus, mit einem düsteren Bild von der Zukunft, das sich längst erahnen lässt. Denn heute schon sterben kranke Menschen, weil ihnen die nötigen Medikamente fehlen, weil Antibiotika wirkungslos bleiben gegen die Bakterien, die in ihrem Körper wüten. Die Weltgesundheitsorganisation hat es "stille Pandemie" getauft, was in vielen Krankenbetten der Welt los ist: Immer häufiger haben gängige Medikamente keine Chance mehr gegen todbringende Mikroorganismen. 1,3 Millionen Menschen sterben weltweit pro Jahr, weil ihnen Antibiotika nicht mehr helfen. In der EU sind es nach jüngsten Schätzungen der europäischen Seuchenbehörde mehr als 35 000. Eine Krankenhaus-Infektion nach einer Routineoperation kann ein Todesurteil sein.

Als das Coronavirus in der Luft lag und Covid-Impfstoffe noch knapp waren, machten sich EU-Beamte in Brüssel Anfang 2021 daran, der drohenden Antibiotika-Krise etwas entgegenzusetzen. Zwei Jahre später, begleitet von einem Gezerre aus Pharma-Lobby, EU-Mitgliedstaaten und Verbrauchergruppen und mehrmals kurzfristig vertagt, steht eine umfassende Reform an, die größte seit fast 20 Jahren. Mit ihrem am Mittwoch präsentierten Gesetzespaket will die EU das Problem der Antibiotikaresistenzen angehen und die Versorgung mit teuren Arzneimitteln in den ärmeren Teilen Europas sicherstellen. Sie will neue Anreize schaffen, damit mehr Medikamente gegen seltene Krankheiten entwickelt werden, Arzneien schneller zulassen und Lieferengpässe vermeiden - und das alles in einem Aufwasch.

Die Entwicklung neuer Antibiotika haben fast alle großen Pharmakonzerne eingestellt. Seit den 1980er-Jahren wurden bestehende Präparate zwar weiterentwickelt, aber kein einziges neues erfunden. Ärzte sollen neue Antibiotika deshalb selten verschreiben, um keine neuen Resistenzen zu provozieren, der Umsatz damit ist also begrenzt. Zugleich ist die Entwicklung teuer.

Um neue Anreize zu schaffen, schlägt die EU-Kommission nun Gutscheine vor: Wer neuartige Antibiotika entdeckt, soll zur Belohnung einen handelbaren und übertragbaren Gutschein erhalten, mit dem der Marktschutz eines beliebigen Medikaments um ein Jahr verlängert werden kann. Also die Zeit, in der keine günstigeren Nachahmerprodukte verkauft werden dürfen. Das kann einen zusätzlichen Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr einbringen. Diese Gutscheine sollen übertragbar sein: Wer sie nicht selbst nutzen möchte, kann sie an die Konkurrenz verkaufen, die damit andere Medikamente länger exklusiv verkaufen kann.

Die zuständige EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nennt ihr Projekt "Europäische Gesundheitsunion", sie will einen Binnenmarkt für Medikamente schaffen. Den gibt es bislang nicht: Während es in Deutschland im Schnitt beispielsweise 133 Tage dauert, bis ein neu zugelassenes Medikament verfügbar ist, müssen Patienten in Polen, Bulgarien oder Rumänien 800 Tage darauf warten. "Das übergeordnete Ziel der Reform besteht darin sicherzustellen, dass Patienten in der gesamten EU rechtzeitig und gleichberechtigt Zugang zu Arzneimitteln haben", heißt es in dem Entwurf.

Ursprünglich wollte die Kommission Konzerne bestrafen, wenn sie ihre neuen Medikamente nicht in allen Mitgliedstaaten gleichzeitig einführen, mit zwei Jahren Marktschutz weniger. Der finale Entwurf sieht nun vor, sie stattdessen zu belohnen: Bringen sie neue Arzneien in der gesamten EU auf den Markt, winkt ihnen ein zusätzliches Jahr Exklusivität. Einen Bonus gibt es außerdem, wenn mit einer Neuentwicklung seltene Krankheiten behandelt werden können, wenn vergleichende klinische Studien durchgeführt werden oder wenn bekannte Medikamente für neue Therapieformen infrage kommen. Pharmafirmen könnten ihre Medikamente damit maximal zwölf statt bislang elf Jahre vor Nachahmer-Produkten schützen.

Auch sollen die bürokratischen Hürden für die Zulassung von neuen Arzneimitteln sinken. Die Rolle der europäischen Arzneimittelbehörde EMA soll gestärkt werden, die Beamten früher mit den Konzernen in Kontakt treten. Ziel der Kommission ist es, neue Medikamente im Schnitt binnen 180 statt bislang etwa nach 400 Tagen zulassen zu können.

Die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie sollen sich zudem nicht wiederholen: Im vergangenen Jahr wurden quer durch Europa selbst Alltagsmedikamente knapp, Apotheken rationierten die Abgabe von frei verkäuflichen Schmerzmitteln und mussten Eltern vertrösten, deren kranke Kinder Fiebersaft brauchten. Hersteller sollen künftig frühzeitig melden, wenn Lieferengpässe drohen, sie Medikamente vom Markt nehmen oder Neuentwicklungen einstellen. Die Kommission will außerdem eine Liste "kritischer Medikamente" erstellen, die für die Gesundheitsversorgung entscheidend sind. Mindestens für diese Arzneien sollen Krisenvorräte angelegt werden.

Dazu dürften auch etliche Antibiotika gehören. Dass sich Bakterien an die für sie giftigen Substanzen gewöhnt haben, liegt längst nicht nur an mangelnden Innovationen: Antibiotika werden zu häufig verschrieben. Nach dem Wunsch der Kommission sollen sie künftig vorsichtiger eingesetzt werden, mit klaren Empfehlungen dazu, wann und wie häufig sie Menschen verabreicht werden sollten. Bis 2030 sollen europäische Patienten relativ zu 2019 ein Fünftel weniger antibiotische Medikamente einnehmen. Auf den Packungen sollen künftig Warnhinweise stehen.

Am Ende verwundert es nicht, dass die EU-Kommission dieses Gesetzespaket mehrmals verschoben und überarbeitet hat. Neben der langen Liste an zu lösenden Problemen hatte sie vor mit dem Interessenausgleich zwischen den EU-Staaten, der Industrie und den Verbrauchern zu tun. "Wir glauben, dass wir dieses Gleichgewicht ziemlich gut getroffen haben", sagt ein hoher EU-Beamter. Das sehen sowohl die Pharmaindustrie als auch Verbraucherschützer anders. Die Debatte um die Pharma-Reform wird noch weiter andauern.

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