Süddeutsche Zeitung

Wasserstoff:Im Labyrinth der Moleküle

Die EU-Kommission stellt Regeln für grünen Wasserstoff auf - und verankert einen Vorteil für Länder, die viel Atomstrom erzeugen. Manche halten das für Etikettenschwindel.

Von Michael Bauchmüller und Björn Finke, Straßburg/Berlin

Das Molekül der Zukunft ist jetzt schon sauberer als das der Vergangenheit. Wasserstoff braucht schließlich keine tiefen Bohrungen mehr, um über Jahrmillionen entstandenes Erdgas an die Oberfläche zu befördern, mitsamt den klimaschädlichen Emissionen, die bei Förderung und Verbrennung entstehen. Das Zukunftsmolekül Wasserstoff entsteht aus elektrischem Strom, per Elektrolyse aus Wasser. Auch mit ihm lässt sich heizen, fahren und - in seinen flüssigen Derivaten - fliegen. Am saubersten jedoch ist das neue Molekül dann, wenn der für die Gewinnung genutzte Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Es wird dann zum grünen Wasserstoff. Aber vielleicht darf dabei bald auch eine gar nicht so saubere Energie mitwirken: Atomstrom. Anzeichen dafür gibt es.

Etwa in einem lange erwarteten Rechtsakt, den die Europäische Kommission am Montag vorgelegt hat. Dieser buchstabiert die Bedingungen aus, unter denen in Zukunft Wasserstoff als grün gelten soll. Ökoenergien spielen dabei natürlich die entscheidende Rolle. Im Idealfall steht der Elektrolyseur - so heißen die Anlagen, mit denen der Wasserstoff gewonnen wird - direkt neben einem Wind- oder Solarpark und ist mit ihm verbunden. Oder es gibt einen direkten Abnahmevertrag zwischen beiden, ein sogenanntes "Power Purchase Agreement", kurz PPA.

Von 2028 an darf der Ökostrom für den grünen Wasserstoff nur aus Anlagen kommen, die weniger als drei Jahre alt sind. Die Wasserstoff-Windparks sollen also zusätzlich entstehen. Dies soll verhindern, dass wegen der Elektrolyseure zu wenig Ökostrom für die Steckdosen übrig bleibt. Zudem sollen die Parks in räumlicher Nähe zur Wasserstoff-Produktion errichtet werden, also mindestens in der gleichen Strompreis-Zone. Auch soll der Strom dann erzeugt werden, wenn der Elektrolyseur ihn verbraucht: von 2030 an mindestens in derselben Stunde, vorher im selben Monat.

Doch es gibt Ausnahmen, und hier wird die Sache heikel. Recht unstrittig ist noch, dass diese strengen Regeln weitgehend wegfallen sollen für Elektrolyseure in Regionen, wo ohnehin mehr als 90 Prozent der Elektrizität aus erneuerbaren Quellen stammt. Das ist bisher nur in Nordschweden der Fall. Umstritten ist hingegen eine Klausel, die Erleichterungen vorsieht für Gegenden, in denen der durchschnittliche CO₂-Fußabdruck des Stroms gering ist. Fällt im Schnitt weniger als 18 Gramm Kohlendioxid je Megajoule an, soll Wasserstoff einfacher das Etikett "grün" bekommen. Gut ist das für Frankreich, wo viel CO₂-armer Atomstrom gewonnen und so die 18-Gramm-Marke unterschritten wird.

Kann Kernenergie grünen Wasserstoff erzeugen?

Zwar müssen die Hersteller von Wasserstoff auch in Frankreich PPAs über grünen Strom abschließen, also Langfristverträge mit Windparks. Die Erleichterung besteht aber darin, dass diese Parks nicht neu und zusätzlich sein müssen. Und weht der Wind gerade mal nicht, könnten die Produzenten mit Kernenergie Wasserstoff erzeugen und ihn als grün verkaufen. "Das ärgert uns", heißt es dazu aus dem Bundeswirtschaftsministerium in Berlin. "Da wird versucht, wiederum Atomenergie als erneuerbare Energie zu deklarieren." Der Grünen-Europaabgeordnete Michael Bloss kritisiert, diese Ausnahme setze "Anreize, veraltete Atommeiler am Netz zu halten oder gar Milliarden zu investieren, um neue zu bauen".

Da es sich bei dem Gesetz um einen sogenannten delegierten Rechtsakt handelt, können das EU-Parlament oder der Ministerrat - das Gremium der Mitgliedstaaten - die Vorschriften nicht ändern. Sie können das Gesetz nur ablehnen und haben dafür zwei bis vier Monate Zeit.

Der Streit um die Rolle der Kernenergie zwischen Berlin und Paris hat mittlerweile Tradition. Schon vor gut einem Jahr, als die Kommission in ihrer Taxonomie - einem Gesetz über grüne Geldanlagen - auch Kernkraft für "nachhaltig" erklärte, lagen die beiden Regierungen überkreuz. Und bald steht eine noch wichtigere Entscheidung an: die nämlich, welche Energieformen die Europäer insgesamt als "grün" betrachten. Geht es nach der französischen Regierung, würde auch Atomstrom helfen, Europas Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien zu erreichen. Für die Regierung in Deutschland, wo in zwei Monaten die letzten AKWs den Dienst quittieren sollen, ein Unding.

Das Ergebnis sind komplizierte Kompromisse wie jener rund um die Moleküle der Zukunft - die obendrein lange auf sich warten lassen. Die Unternehmen sind deshalb froh, dass überhaupt eine Entscheidung gefallen ist. "Eine bei weitem nicht perfekte Verordnung ist besser als gar keine Verordnung", sagt etwa Jorgo Chatzimarkakis, der Chef des Branchenverbands Hydrogen Europe. "Endlich gibt es Klarheit für Industrie und Investoren." Und Moritz Mund vom deutschen Energieverband BDEW nennt die Kriterien "alles andere als optimal", betont aber: "Es geht jetzt auch um Geschwindigkeit." Schließlich braucht es rasch Ersatz für die Moleküle von gestern.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5751384
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/mxm
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.