Süddeutsche Zeitung

EU-Sozialkommissar:EU-Regeln zu Mindestlöhnen könnten Deutschland treffen

Auf etwa 12 Euro müsste der deutsche Mindestlohn steigen, um mit den geplanten Regeln konform zu sein. Doch vorher äußern sich Gewerkschaften und Arbeitgeber.

Von Björn Finke, Brüssel

Die EU-Kommission könnte demnächst Regeln erlassen, wie Mitgliedstaaten ihre Mindestlöhne festsetzen sollen. Bis Anfang September würden dazu Meinungen der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Europa eingeholt, teilte die Brüsseler Behörde am Mittwoch mit. Danach will die Kommission entweder einen Vorschlag für eine Richtlinie oder eine Empfehlung präsentieren. Eine Empfehlung könnten die Regierungen ignorieren, eine Richtlinie nicht. "Wir haben noch keine Entscheidung zum Instrument getroffen und werden hier die Kommentare der Sozialpartner berücksichtigen", sagte EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung und mehreren ausländischen Medien.

Bereits Anfang des Jahres konnten Gewerkschaften und Arbeitgeber sechs Wochen lang Stellung nehmen zu dem Thema. Die Antworten ermutigten die Kommission, in der Tat aktiv werden zu wollen. Eine Regelung aus Brüssel würde aber keinen einheitlichen Mindestlohn schaffen oder ein einheitliches Verfahren zur Ermittlung vorschreiben. In dem Dokument, das die Kommission zur Beratung mit den Sozialpartnern herausgab, heißt es stattdessen, die Behörde könnte Kriterien und Variablen festlegen, anhand derer eine angemessene Höhe zu berechnen sei. Zudem könnte Brüssel verlangen, dass Regierungen Gewerkschaften und Arbeitgeber bei dem Verfahren einbeziehen. Das geschieht in Deutschland ohnehin.

Als Kriterium für die Höhe wird diskutiert, dass der Mindestlohn bei 60 Prozent des Median-Einkommens, also des mittleren Einkommens des Landes liegen soll. Das erreichen bislang die wenigsten Staaten. In Deutschland müsste die Untergrenze dafür von 9,35 auf 12 Euro steigen - genau wie es die Gewerkschaften fordern. Kommissar Schmit betont in dem Gespräch, dass die 60-Prozent-Marke eine Rolle spielen werde, doch "nicht der einzige Anhaltspunkt sein kann". Sein Heimatland Luxemburg habe "den höchsten Mindestlohn der EU, aber er unterschreitet 60 Prozent" des luxemburgischen Median-Einkommens, sagt der Sozialdemokrat. "Zugleich gibt es Länder, wo die Mindestlöhne wirklich niedrig sind und viele Menschen auf sie angewiesen sind, und diese Länder liegen über der 60-Prozent-Marke". Ein Beispiel dafür ist Bulgarien.

Trotzdem könnte die EU-Regelung auch Länder wie Luxemburg oder Deutschland zu üppigeren Mindestlöhnen zwingen: "Ich schließe nicht aus, dass es selbst in Staaten mit einem vergleichsweise hohen Mindestlohn nötig sein wird, diesen anzuheben", sagt Schmit. "Ansonsten würde ich ja erklären, dass die Regelung nur Länder mit den niedrigsten Löhnen betrifft. Doch es soll ein Rahmen für alle Länder mit staatlichen Mindestlöhnen sein."

Sechs EU-Länder haben keine staatlichen Mindestlöhne: Zypern, Italien, Österreich, Finnland, Schweden und Dänemark. Besonders die nordeuropäischen Staaten sehen die Brüsseler Initiative kritisch - die Gewerkschaften dort sind stark und haben ein hohes Lohnniveau durchgesetzt; sie wünschen keine Einmischung der Regierung. Schmit versichert, EU-Regeln würden kein Land zwingen, staatliche Mindestlöhne einzuführen, wenn den Beschäftigten über Tarifverhandlungen angemessene Gehälter garantiert würden.

In der Beratungsvorlage der Kommission heißt es, die EU wolle nicht nur Mindestlöhne stärken, sondern auch die Bedeutung von Tarifverhandlungen und Sozialpartnern in den Mitgliedstaaten. Schmit sagt, hier gehe es nicht um Länder, wo Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ohnehin mächtig seien, sondern um die anderen: "Tarifverhandlungen sind Teil des europäischen Wirtschaftsmodells, das wir verteidigen. Sozialpartner sollten eine wichtige Rolle spielen." Diese Botschaft dürfte sich vor allem an einige osteuropäische Regierungen richten.

Die Regeln zu Mindestlohn und Tarifverhandlungen hätten das Ziel, die "Konvergenz bei Löhnen" und "die soziale und ökonomische Konvergenz" zu steigern, sagt er. Sprich: Die Unterschiede zwischen reichen und armen Mitgliedstaaten sollen kleiner werden. Allerdings sehen manche Regierungen in Osteuropa niedrige Löhne als Wettbewerbsvorteil an. "Man kann seine Wettbewerbsfähigkeit auf lange Sicht nicht nur auf niedrigen Löhnen aufbauen", erwidert Schmit. "Viele Länder in Europa haben das Problem, dass die Produktivität zu gering ist." Regierungen bräuchten Anreize, ihr Wirtschaftsmodell weiterzuentwickeln, durch Investitionen in Bildung und Forschung. "Wir harmonisieren nicht unsere Sozialsysteme, sondern versuchen, ein wenig die Lücken zwischen ihnen zu schließen", sagt der Kommissar. "Wir sind schließlich nicht bloß eine Freihandelszone, sondern eine Union."

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SZ vom 04.06.2020/mxh
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