Es sind Operationen am Herzen der europäischen Klimapolitik, die da seit Monaten im Europaparlament stattfinden. Zwischendurch konnte man den Eindruck gewinnen, der Patient sei nicht mehr zu retten. Die gestiegenen Energiepreise und der Krieg in der Ukraine erschwerten die Verhandlungen über das zentrale Gesetz des europäischen "Green Deals", von der Kommission im Juli 2021 vorgestellt: die Reform des CO₂-Emissionshandels. Er muss verschärft und ausgeweitet werden, will die EU ihre Klimaziele erreichen. Aber nun, siehe da: Es könnte klappen, ein Kompromiss zeichnet sich ab.
"Der Kompromiss wird helfen, unseren Planeten zu retten", sagt der Europaabgeordnete Peter Liese von der CDU, der das Gesetz federführend durch das Parlament lotst. Zugleich würden die Menschen vor Arbeitsplatzverlust und exzessiven Energiepreisen geschützt. Auch Michael Bloss von den Grünen, Lieses Widerpart, sagt, er sei "stolz" auf das, was erreicht wurde: "eine große Reform", die den Klimaschutz entscheidend voranbringen könne. Nun muss die Reform aber noch zwei wichtige Abstimmungen überleben, dann ginge sie in die Verhandlungen mit den 27 Mitgliedstaaten.
Kein Werkzeug hat sich als so wirksam erwiesen, Europas Industrie in die Spur zu bringen, keines ließe sich so leicht auch auf andere Staaten ausweiten wie der EU-Emissionshandel (ETS). "Und wir stehen jetzt definitiv vor seiner größten Reform", sagt Domien Vangenechten, Handelsexperte beim Umwelt-Thinktank E3G.
Wer nicht investiert, soll die Nachteile spüren
2005 hatte die EU das Handelssystem eingeführt, in der Theorie sollte das so funktionieren: Europa erlaubt seiner Industrie eine Höchstmenge an klimaschädlichen CO₂-Emissionen. Für diese Gesamtmenge gibt sie Zertifikate aus. Will ein Unternehmen mehr produzieren und emittieren, muss es zusätzliche Zertifikate kaufen. Weil die aber nicht grenzenlos vorhanden sind, bildet sich ein Preis dafür. Wie immer bei knappen Gütern setzt sich am Ende der durch, der am meisten zahlt - während andere vielleicht auf die Idee kommen, weniger CO₂ auszustoßen, etwa durch modernere Anlagen, die sie dadurch finanzieren, dass sie freiwerdende Zertifikate verkaufen. In der Praxis jedoch gab es mehr als ein Jahrzehnt lang zu viele Zertifikate, der Preis blieb im Keller. Erst nach mehreren Schritten waren die Zertifikate knapp genug. Mittlerweile kostet es um die 80 Euro, eine Tonne Kohlendioxid auszustoßen. Da lohnt es sich, darauf zu verzichten. In Industrie und Kraftwerken sanken die Emissionen seit 2005 um 43 Prozent.
Und sie sollen weiter sinken. Die Reform sieht vor, die Zahl der Zertifikate weiter zu verringern. Das dürfte die Preise steigen lassen. Jedoch soll viel Geld an die Wirtschaft zurückgehen: Unternehmen können sich aus einem riesigen Innovationsfonds klimafreundliche Investitionen fördern lassen. Generell wird das System darauf ausgelegt, klimafreundliche Unternehmen zu fördern. Wer nicht investieren will, dem drohen Nachteile.
Die EU will den Emissionshandel zudem zum Herzstück einer neuen Grenzabgabe machen. Wer Produkte nach Europa einführt, soll für deren Klima-Fußabdruck einen Preis zahlen. Der soll sich am Zertifikatepreis für CO₂ orientieren. "Das verändert komplett die Art, wie der Emissionshandel funktioniert", sagt E3G-Mann Vangenechten. Denn die ungleichen Bedingungen im Welthandel begleiten das System von Anfang an. Damit europäische Unternehmen nicht teurer produzieren und letztlich abwandern, erhielten sie bisher die meisten Emissionsrechte kostenlos. Käme die neue Grenzabgabe, müssten alle zahlen. Sonst wäre die Abgabe eine Benachteiligung für die Importeure, die Welthandelsorganisation WTO träte auf den Plan. Die Frage, wann der Systemwechsel vollzogen sein soll, ist noch umstritten.
Autofahren würde teurer
Noch diffiziler ist der zweite Emissionshandel (ETS 2), der neben den ersten gestellt werden soll. Er träfe die Europäer direkt. Nach dem Vorbild der Fabriken und Kraftwerke soll es auch eine Obergrenze für Heiz- und Kraftstoffe geben. Auch hier gäbe es Zertifikate, auch sie bekämen einen Preis und würden Heizen und Autofahren teurer machen. "Langfristig könnten wir mit so einem System auch den Ausstieg aus Öl und Gas steuern", sagt Brigitte Knopf, Chefin des Berliner Klimaforschungsinstituts MCC. "Und das nicht mit vielen nationalen Systemen, sondern einem einheitlich europäischen."
Doch wenn die Emissionen überall in Europa das Gleiche kosten, trifft das die Europäer unterschiedlich hart. Reiche Dänen können sich das leichter leisten als arme Bulgaren. Und so musste CDU-Mann Liese einen schmerzlichen Kompromiss in Kauf nehmen: Nur gewerbliches Wohnen und gewerblicher Verkehr sollen zunächst in den neuen Emissionshandel einbezogen werden, Privatpersonen frühestens 2029, wenn überhaupt. Denn im Parlament schrecken viele davor zurück, die Menschen gerade jetzt mit der Nachricht zu verschrecken: Energie wird noch teurer!
Der Gesetzentwurf der Kommission sieht vor, Menschen mit geringem Einkommen für gestiegene Energiepreise aus einem Sozialfonds zu entschädigen, der sich aus den Einnahmen aus dem ETS 2 speist. Für die EU würde das weit über die Klimapolitik hinausführen. Faktisch würde sie Geld einnehmen, das sie dann umverteilt. Es wäre der Einstieg in eine europäische Sozialpolitik. Die Debatte um den Emissionshandel mache das nicht einfacher, sagt Knopf.
Über die Reform wird nächsten Dienstag im Umweltausschuss abgestimmt und Anfang Juni im Plenum. Ein Streitpunkt ist noch, wie stark mit der Reform die CO₂-Emissionen bis 2030 gesenkt werden sollen. Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Linke wollen über die von der Kommission vorgegebene Zielmarke hinausgehen. Sie wollen außerdem durchsetzen, dass schon im Jahr 2030 keine kostenlosen Zertifikate an die Industrie vergeben werden, wenn gleichzeitig die Grenzabgabe für Importeure in Kraft tritt. In Lieses EVP-Fraktion gibt es dagegen Widerstand, man will die Industrie schonender behandeln. Noch kann also die ganze Reform platzen.
Ohnehin gibt es immer wieder Kritik am Emissionshandel. "Wir sollten den CO₂-Handel aussetzen", sagte er slowakische Wirtschaftsminister Richard Sulík kürzlich. "Weil er die Energiepreise treibt." Gerade in Osteuropa ist diese Position nicht selten. Aber sie sei falsch, sagt Domien Vangenechten, gerade wegen der explodierenden Energiepreise. "Um aus diesem Desaster rauszukommen", sagt er, "brauchen wir mehr Anstrengungen und nicht weniger."