Süddeutsche Zeitung

Krebsvorsorge:EU verschärft Grenzwerte für Asbest drastisch

Der krebserregende Dämmstoff findet sich in Millionen von Häusern. Bei Renovierungen kann er freigesetzt werden. Die Kommission will Bauarbeiter besser schützen, doch Kritikern reicht das nicht.

Von Björn Finke, Brüssel

Es sind dramatische Zahlen: In der EU sterben jedes Jahr gut 70 000 Arbeiter daran, dass sie - oft schon vor Jahrzehnten - mit dem krebserregenden Dämmstoff Asbest in Berührung gekommen sind. Vier von fünf Krebsfällen, die auf Berufsrisiken zurückgehen, haben mit Asbest zu tun. Und mehr als 220 Millionen Wohnungen in der EU wurden vor dem Asbest-Verbot 2005 gebaut. In vielen von ihnen könnten sich die tödlichen Mineralfasern weiter in Wänden verbergen. Werden sie bei Renovierungen freigesetzt, herrscht Lebensgefahr. Die Daten präsentierte die EU-Kommission am Mittwoch in Brüssel - zusammen mit einem Gesetzentwurf, der die Risiken mindern soll.

Demnach will die Behörde den 2009 erlassenen Grenzwert um den Faktor zehn verschärfen: Beschäftigte, etwa Bauarbeiter, dürfen dann höchstens einer Belastung von 0,01 Asbestfasern pro Kubikzentimeter Raumluft ausgesetzt sein. Bislang liegt die EU-Grenze bei 0,1 Fasern. Deutschland schreibt allerdings bereits freiwillig das strengere Limit von 0,01 vor. Die Arbeiter in anderen EU-Staaten mit laxeren Regeln müssten nach der Verschärfung öfter oder bessere Schutzkleidung und Atemmasken tragen, Schutzfolien müssten die Verbreitung der Fasern vermeiden.

Das Europaparlament forderte vor einem Jahr in einer Entschließung sogar, den Grenzwert um den Faktor hundert zu senken. EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit sagt nun aber, dass die EU "auch mit dem Faktor zehn das Risiko wirklich sehr stark verringern kann". Bei noch kleineren Werten würde es womöglich schon schwierig, die Einhaltung genau zu messen; zugleich würden die Kosten für die Unternehmen stark steigen, erläutert der luxemburgische Sozialdemokrat in einem Gespräch mit der SZ und zwei anderen internationalen Medien. Den europäischen Gewerkschaftsdachverband Etuc überzeugt das nicht. Dessen Vize-Chef Claes-Mikael Ståhl klagt, die Kommission habe im Streit zwischen Wissenschaft und Wirtschaftslobbyisten über die richtige Obergrenze "leider die Seite der Wirtschaft" eingenommen.

Solange Asbest in Wänden sicher versiegelt ist, besteht keine Gefahr. Doch viele alte Wohnungen, die vor dem Nutzungsverbot hochgezogen wurden, sollen in den kommenden Jahren saniert werden, um die Wärmedämmung zu verbessern. Auf Gebäude entfallen schließlich 40 Prozent des Energieverbrauchs der EU. Daher gab die Kommission bereits vor zwei Jahren das Ziel aus, bis 2030 die jährliche Renovierungsquote zu verdoppeln, als Beitrag zu den ehrgeizigen Klimaschutzzielen. Die rasant gestiegenen Gaspreise heizen die Nachfrage nach solchen Sanierungen weiter an. Doch mehr Renovierungen bedeuten ein größeres Risiko, Asbest freizusetzen.

Staaten sollen ein Register von Asbest-Häusern erstellen

Die Kommission schätzt, dass der strengere Grenzwert über die Jahre mehr als 600 Krebserkrankungen in der EU verhindern wird. Kommissar Schmit sagt, dass ohnehin "kein verantwortungsbewusstes Unternehmen seine Beschäftigten bewusst diesem Risiko aussetzen" werde. "Aber leider könnte es auch weniger verantwortungsbewusste Firmen geben, denen diese Gefahr egal ist und die deswegen billiger anbieten können", sagt er. Um "unfairen Wettbewerb" zu vermeiden, schreibe die EU nun den strengeren Grenzwert vor.

Mit der Gesetzesnovelle müssen sich allerdings erst noch Europaparlament und Ministerrat befassen, das Gremium der EU-Regierungen. Im kommenden Jahr wird die Brüsseler Behörde einen weiteren Rechtsakt vorschlagen, der Mitgliedstaaten zwingt, den Häuserbestand systematisch auf Asbest zu untersuchen und ein Register aufzubauen, das riskante Gebäude erfasst. "Um ein Freisetzen zu verhindern, muss man ja erst einmal wissen, dass in einem Gebäude Asbest ist", sagt Schmit.

Neben der Asbest-Initiative präsentierte der Luxemburger am Mittwoch eine Reihe unverbindlicher Empfehlungen, wie Mitgliedstaaten ihre Sozialhilfe-Systeme verbessern sollten. So gelten 95 Millionen EU-Bürger - jeder fünfte - als armutsgefährdet. Unter anderem gibt die Kommission jetzt als Ziel vor, dass bis 2030 alle Mitgliedstaaten die Sozialhilfe-Beträge auf ein "angemessenes Niveau" erhöhen.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen lehnt Schmit ab

Angemessen sollen die Bezüge sein, wenn sie Bürger zum Beispiel über den Schwellenwert heben, unter dem Menschen als armutsgefährdet gelten. Diese Grenze liegt bei 60 Prozent des mittleren Einkommens im jeweiligen Staat - in Deutschland gut 1100 Euro pro Monat für Alleinlebende. Schmit zufolge erreicht in der EU lediglich das niederländische Sozialhilfe-System diese 60 Prozent. Zugleich sollen sich die Regierungen stärker bemühen, Arbeitslose wieder in Jobs zu bringen, durch Anreize im Steuer- und Sozialhilfe-System und durch Fortbildungen. Nur Geld zu überweisen, sei nicht genug, mahnt Schmit - und klagt, dass die Sozialbehörden in manchen Staaten "in schlechter Verfassung" seien und zu wenig für die Eingliederung täten.

Die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens, über das auch in Deutschland diskutiert wird, lehnt der Sozialdemokrat ab. "Die Menschen erhalten Geld, egal, ob sie einen Job wollen oder nicht. Und niemand kümmert sich darum, diese Leute wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren", moniert Schmit. "Da bin ich strikt dagegen."

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