Süddeutsche Zeitung

ETF-Flash-Crash:Was für ein Montag

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Am 24. August passierte, was gar nicht passieren dürfte: Börsengehandelte Indexfonds verloren weitaus mehr als die Aktienkörbe, die sie möglichst genau abbilden sollen. Experten rätseln über die Ursachen.

Von Katharina Wetzel

Montage haben es manchmal in sich. Doch was am Montag, dem 24. August 2015, an den US-Börsen geschah, gibt Finanzfachleuten immer noch Rätsel auf. Kurz nachdem die Börsenglocke an der New Yorker Börse den Handel eröffnete, rutschten Dutzende Aktien-ETF unter den Wert ihrer Basiswerte. Normalerweise sollen die börsengehandelten Indexfonds (Exchange Traded Funds) ja gerade einen Index wie den Dax oder den Dow Jones möglichst genau abbilden. Doch an diesem "schwarzen Montag" verloren sie weit mehr als ihre Indizes. Dies hat die amerikanische Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission) alarmiert. "Warum ETF sich an diesem Morgen als so fragil erwiesen haben, wirft viele Fragen auf und zeigt, dass es Zeit sein dürfte, das gesamte ETF-Ökosystem erneut zu überprüfen", kündigte SEC-Kommissar Luis A. Aguilar kürzlich in einer Rede an.

Bei der ETF-Branche kommen solche Ansagen weniger gut an. Die Indexfonds gelten als einfach, transparent und kostengünstig. Selbst Verbraucherschützer empfehlen die Produkte daher gerne. Laut dem Analysehaus Lipper sind weltweit 2,7 Billionen Dollar in ETF angelegt. Die Branche befindet sich auf Wachstumskurs. Eric Wiegand, ETF-Stratege beim Vermögensverwalter der Deutschen Bank, kann an den Produkten auch nichts Schlechtes feststellen: "ETF sind nicht das Problem. Sie haben nur die Probleme an der US-Börse sichtbar gemacht." Die Ursachen für den "ETF-Flash-Crash" mag Wiegand nicht abschließend beurteilen. Er und viele andere Branchenexperten vermuten aber, dass bestimmte US-Börsen-Regularien den ETF-Flash-Crash ausgelöst oder zumindest verschlimmert haben. "An europäischen Börsen wie Xetra in Frankfurt oder der Stuttgarter Börse konnten wir diese extremen Preisverwerfungen bisher nicht erkennen. Daraus lässt sich durchaus schließen, dass der Handel in Europa technisch besser organisiert ist", sagt Wiegand.

Der ETF-Flash-Crash müsse im Zusammenhang mit den Ereignissen im August betrachtet werden, erklärt Paul Young, ETF-Experte bei State Street Global Advisors: "Der 24. August war ein sehr aufreibender Tag für die Märkte." Die abflauende Wirtschaft in China bereitete Anlegern weltweit Sorgen. Nachdem es bereits an chinesischen und europäischen Börsen am Montag zu Kurseinbrüchen kam, machte die New Yorker Börse von ihrer "Regel 48" Gebrauch. Damit sollen Preishinweise vor Börseneröffnung ausgesetzt werden, um unerwünschte Kursausschläge zu Handelsbeginn zu vermeiden. Laut Young hat dies jedoch eher die Unsicherheit im Markt noch verstärkt. Denn insbesondere für sogenannte Market-Maker wie Banken sind diese vorbörslichen Werte ein wichtiger Indikator, um faire Preise zu ermitteln.

"Um 9.45 Uhr waren nur 65 Prozent der gelisteten Aktien zum Handel freigegeben."

Dies Marktmacher spielen eine bedeutende Rolle. Denn sie sorgen dafür, dass der Handel liquide ist, also reibungslos funktioniert, indem sie für die Wertpapiere stets An- und Verkaufspreise stellen und so temporäre Ungleichgewichte ausgleichen. Am 24. August hatten diese Marktmacher aber gar nicht die üblichen Informationen, bemängelt Young: "Um 9.45 Uhr New Yorker Zeit waren nur 65 Prozent der an der New Yorker Börse gelisteten Aktien zum Handel freigegeben." Doch wie soll ein gesamter ETF-Aktienkorb wie der Dow Jones mit 30 Aktien von US-Gesellschaften bewertet werden, wenn einige Titel davon fehlen? "Für die Market-Maker war es eine Herausforderung, Preise zu stellen, da viele Wertpapiere, die sich in den ETF-Aktienkörben befanden, von der US-Börse vom Handel ausgesetzt wurden", sagt Marino Valensise vom Fondshaus Barings. Viele hätten sich daher verunsichert zurückgezogen.

Bereits im Mai 2010 kam es an der Wall Street zu einem kurzen, aber heftigen Kurssturz. Danach wurden in den USA in einem Pilotprojekt neue Regeln eingeführt, nach denen Börsen den Handel von Wertpapieren anhalten und für eine bestimmte Zeit aussetzen können. Diese sogenannten "Limit up, limit down-Rules" haben an dem Morgen vom 24. August Schätzungen zufolge 1000 Handelsunterbrechungen bei ETF ausgelöst. Ein Grund vielleicht, warum die Märkte nicht ins Gleichgewicht kamen? Die SEC prüft jedenfalls, ob die Regeln nicht doch überarbeitet werden müssen und bat die Branche bereits kurz darauf um eine Stellungnahme. Die New Yorker Börse arbeite ihrerseits an Verbesserungen der Markt- und Handelsstruktur, teilt eine Sprecherin mit.

Fondsexperte Valensise zufolge kam an dem schwarzen Montag dann eines zum anderen. Viele ETF-Anleger haben eine sogenannte Stop-Loss-Order eingerichtet, um größere Verluste zu vermeiden. Dabei wird der ETF bei einem bestimmten Wert automatisch verkauft. "Als diese Stop-Loss-Schwellen erreicht wurden, kam es zu einem plötzlichen Preissturz der ETF", sagt Valensise. Neben diesen technischen Problemen hätten Investoren auch noch sogenannte Momentum-Strategien verfolgt, also dem Trend entsprechend verkauft. "Das löste einen richtigen Sturm aus."

Die Ursachen des Flash-Crash vom 24. August werden derzeit auch von Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) untersucht. Der Flash-Crash fällt in eine Zeit, in der Aufseher weltweit wachsam sind, da das Volumen der ETF in den vergangenen Jahren stark angestiegen ist. Erst im Frühjahr warnten etwa IWF-Experten vor möglichen Liquiditätsproblemen und einem Austrocknen der Märkte. Bei einem Herdenverhalten, einem gleich gerichteten Verhalten mehrerer Marktteilnehmer, könnten ETF ein Risiko für die Stabilität des Finanzsystems darstellen. Die Liquidität, die es in normalen Zeiten zu geben scheine, könne sich bei einem unerwarteten Ereignis als Illusion erweisen.

Die Branche nimmt die Sorgen ernst. "Wir sollten überlegen, ob ETF in Zeiten volatiler Märkte spezielle Börsenregeln brauchen", sagt Young. Wenn ETF von ihrem Basiswert stark abwichen und es eine große Unsicherheit über den Wert des Indizes gebe, sollten sie vom Handel für eine gewisse Zeit ausgesetzt werden, schlägt Marlene Hassine, Chefin der ETF-Forschungsabteilung bei Lyxor, vor. Bei Griechenland-ETF sei dies etwa an europäischen Börsen bereits praktiziert worden.

"Viele dachten, dass ETF immer liquider sind als ihre Basiswerte."

"Es sollte grundsätzlich nicht vorkommen, dass sich ein ETF ganz weit weg vom Referenzwert bewegt", sagt Michael Görgens, Leiter des ETF- und Anleihenhandels an der Börse Stuttgart. In Stuttgart seien daher Handelsexperten eingebunden, die bei starken Abweichungen zur letzten Preisstellung einen zusätzlichen Sicherheits- und Qualitätscheck durchführen.

"Viele dachten, dass ETF immer liquider sind als ihre Basiswerte", sagt Morningstar-Analyst Ali Masarwah. Das war noch vor dem Flash-Crash. "Das wichtigste Fazit: Es gibt nicht immer ideale Bedingungen. Die Welt ist nicht perfekt", sagt Masarwah. Dies hat der schwarze Montag wieder bewusst gemacht.

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Quelle:
SZ vom 05.11.2015
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