Süddeutsche Zeitung

Estland:Das vernetzte Land

In keinem Staat gibt es so viele Start-ups pro Einwohner wie in Estland. Die Regierung setzt auf Digitalisierung - überall.

Von Frank Nienhuysen

Markus Villig ist 23 und lässt sich gern von anderen Menschen durch die Gegend fahren. Das Mitfahren ist sein Geschäft. Er hat kein eigenes Auto, nicht mal einen Führerschein, aber er hat jetzt ein Einhorn. Weiß und plüschig steht es auf einer Kommode in seiner Firma, es ist das Symbol für ein Start-up-Unternehmen, das einen Marktwert von einer Milliarde Dollar erreicht hat. Villig ist Gründer und zusammen mit seinem älteren Bruder der Chef von Taxify, dem am schnellsten wachsenden Start-up im gesamten Baltikum - und Konkurrent des Fahrdienstunternehmens Uber. Allein im vorigen Jahr wurden etwa 500 Mitarbeiter eingestellt, es ist deshalb zu eng geworden in der schick renovierten Tallinner Möbelfabrikhalle von 1912. In einem halben Jahr ist das neue, eigene Gebäude fertig. Sechs Stockwerke hoch. Die Firma strebt empor.

Villig hat eine App entwickelt, mit der Fahrgäste ein Taxi bestellen können, sie sehen auf ihrem Smartphone sofort den Namen des Fahrers, in wie viel Minuten er ankommt, wie lange die Fahrt dauern wird, wie viel sie kostet. Sie bezahlen elektronisch und können die Dienstleistung mit Sternen bewerten. "Vor fünf Jahren war es in Tallinn Luxus, sich ein Taxi zu nehmen", sagt Villig, "jetzt höre ich von jungen Leuten, dass sie mehrmals pro Woche eines rufen. Fahrten sind um 20 Prozent billiger geworden." Taxify beschäftigt eine halbe Million Fahrer in 25 Ländern, in Europa, in Afrika, es nimmt von ihnen weniger Provision als der Konkurrent, bildet Fahrer auch selbst aus und drängt auf weitere Märkte. In diesem Jahr ist der Daimler-Konzern mit einer - wie kolportiert - dreistelligen Millionensumme bei Taxify eingestiegen und hat nun etwa zehn Prozent der Anteile. Villig sagt, "langfristig werden über Plattformen wie unserer bis zu 15 Prozent des städtischen Transportverkehrs abgewickelt, da will Daimler natürlich ein Teil davon sein".

Sicher, Villig hat dieses unternehmerische Wesen, das ihn schon mit zehn Jahren Sammelkarten profitabel verkaufen ließ. Aber er ist schon auch in einem digital geprägten Milieu aufgewachsen, das sich in Estland noch selbstverständlicher entwickelt hat als in anderen Ländern. Mit 15 erfand Villig an der Schule eine App, mit der Schüler online ihre Noten überprüfen konnten, mit 19 gründete er Taxify. Jeden Tag hatte er sich in seinem letzten Schuljahr nach dem Unterricht in eines der traditionellen Taxis gesetzt und versucht, die Fahrer zu überzeugen, sie könnten während der Wartezeiten ein paar Zusatzfahrten einschieben und hinzuverdienen. Villig zeigte ihnen die App, die sie runterladen und bei der sie sich registrieren müssten. Die klassischen Anbieter knurrten, auch die Fahrer waren skeptisch. Aber Villig setzte sich durch. "Es hat einfach mehr Sinn, digitale Plattformen zu nutzen", sagt er. Im estnischen Staat hatte er einen Verbündeten, der alles sehr schnell gehen ließ. "Er hat dafür die Umgebung geschaffen", sagt Villig. "In Polen haben wir zwei Jahre gebraucht, um als internationales Unternehmen ein Bankkonto zu eröffnen. In Estland geht das in ein paar Tagen."

In keinem anderen Land gibt es so viele Start-up-Unternehmen pro Einwohner wie in dem Ostseestaat. Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern ist so etwas wie das digitale Laborland in Europa, ein Staat, der radikal mit der sowjetischen Vergangenheit gebrochen hat und sich nach dem Ende der Planwirtschaft als Experimentierfeld für Technologie entdeckt hat. 680 ausländische Delegationen haben sich im vergangenen Jahr bei der estnischen Regierung vorgestellt, um zu sehen, was hinter all dem sogenannten e-Estonia steckt: der digitalen Verwaltung, der e-Residency, der e-ID, der e-Health-Care, den e-Schulen.

Hier kann man alles online machen, außer Heiraten und Immobilien kaufen

Estland propagiert das Ende der papiergefüllten Bürokratie, aktenfreies Regieren, Schulen ohne Schulbücher, ein Gesundheitssystem, das ohne handschriftliche Dokumente auskommt, die zwischen Ärzten, Kliniken und Krankenkassen verschickt werden. "Wir können es uns als kleines Land nicht erlauben, von einem ineffizienten System beherrscht zu werden", sagt Marten Kaevats. Der Mann gilt als einer der einflussreichsten Menschen im Land, er ist der Digitalberater der Regierung.

"Bei uns kann man alles online machen, außer Heiraten und eine Immobilie kaufen", sagt er. "Es geht um eine Änderung der Kultur; der Staat sollte sich weniger als Wächter über Informationen verstehen, sondern als Plattform für die Bürger." Er sagt, es sei nicht sinnvoll, bei jedem Behördenschritt einem Mitarbeiter auf Papier Namen, Geburtsdatum, Adresse mitzuteilen; das lasse sich auch mithilfe eines Identitätscodes erledigen, der es unnötig mache, einzelnen Meldestellen oder Ämtern viele Informationen preiszugeben. "Der Code ist eine Art digitaler Name, der besser vor Missbrauch geschützt ist. Normale Unterschriften kann man leicht fälschen", sagt Kaevats. Dass ein Land wie Deutschland im öffentlichen Sektor noch lebenslange Arbeitsplätze anbiete, findet er "altmodisch". Er sagt, "ich verstehe ja, dass man sich um Jobs Sorgen macht, aber das muss sich ändern, wenn Deutschland seinen Staat und seine Verwaltung in das 21. Jahrhundert bringen will."

Für Beamte klingt dieser digitale Vorwärtsdrang wie eine Drohung, für junge Hipster ist das Selbstverständnis von Marten Kaevats und der ebenfalls sehr jungen Regierung eine Verheißung. Das Taxi-Sharing-Modell von Villig etwa ist auch deshalb möglich, weil der Staat dafür den legalen Rahmen schafft, digitale Bezahlsysteme fördert und das einfache Registrieren von privaten Fahrern erlaubt.

Kaevats empfindet das digitale Zeitalter als neue Ära einer politischen und wirtschaftlichen Kultur, und dabei sind Start-ups für ihn Triebkräfte - die dem Land auch zunehmend Geld durch Steuereinnahmen bringen. Die Wirtschaft profitiert von den kleinen und mittelständischen Betrieben, die Start-ups in der Regel sind. Nach Angaben des Regierungsberaters hat Estland aber auch die höchste Zahl von Unicorn-Firmen pro Einwohner, also Start-ups mit einem Marktwert von mindestens einer Milliarde Dollar. Skype gilt dabei als das Musterexemplar, das die Start-up-Branche im Land kultiviert hat.

Einer der vielen Wege in die estnische Moderne führt auf ein altes Industriegebiet in der Nähe des Hauptbahnhofs. In Sowjetzeiten wurden hier Züge hergestellt, jetzt haben sich Dutzende Firmen, Galerien und Cafés in den Fabrikgebäuden eingerichtet. Telliskivi Creative City heißt das Areal, das die Esten als schöpferisches Zentrum der Start-up-Szene verstehen. An einer blau-weiß besprühten Hausfassade mit Raketen-Graffiti geht es durch ein shabby-schickes Treppenhaus hoch zu Lift-99, einem Start-up, das mit einer lässigen Atmosphäre beeindrucken will. Der Meeting Room, in den die Mitgründerin Elise Sass bittet, heißt "Hemingway", statt Stühlen baumeln blaue Sitzschaukeln von der Decke. "Telliskivi ist kein Geschäftszentrum, wo von 9 bis 17 Uhr gearbeitet wird", sagt Sass, "hier werden Freizeit und Arbeit bestens kombiniert. Alle sind immer auf der Suche nach etwas Neuem."

Von dieser Suche profitiert Lift-99, denn das Unternehmen, das selber erst vor wenigen Jahren gegründet wurde, hilft wiederum anderen Start-up-Interessierten mit Software, Kontakten, Beratung, Arbeitsräumen und einer "inspirierenden Umgebung". Elise Sass sagt, "würden Sie mich um Rat zu Social-Media-Marketing fragen, könnte ich sofort drei Namen von estnischen Top-Start-ups nennen, die in dem Bereich schon zehn Jahre Erfahrung haben und sich die Zeit nähmen, mit Ihnen eine halbe Stunde beim Kaffee zu reden. Sie teilen Infos und möchten dabei selber lernen." Auch deshalb kämen viele Betriebe aus Mittel- und Osteuropa zu ihnen.

Zweimal im Jahr treffen sich der Premier und die Vertreter der Start-up-Szene

Sass hält das wirtschaftsliberale Klima für wichtig, es sei dabei völlig unerheblich, welche Parteien gerade die Regierung bilden. Zweimal im Jahr treffen sich der Premier Jüri Ratas und Vertreter der Start-up-Szene. "Natürlich können wir uns dabei immer über irgendetwas beklagen", sagt Sass, "aber eine solche Zusammenarbeit gibt es in keinem anderen Land." Unternehmer würdigen, dass sie ohne Aufwand online eine Firma gründen können. "Das dauert höchstens zehn Minuten", sagt Sass. "Und gerade die digitalen Start-ups arbeiten vom Tag eins an für den englischsprachigen Markt. Unser Land ist zu klein, um nur für diese Region zu arbeiten."

Und die Senioren, die Nichthipster, jene Esten also, die nicht mit Tablets in der Schule aufgewachsen sind, sondern noch in den Wirren des Umbruchs sozialisiert wurden, oder in der Sowjetzeit? Viele von ihnen kommen bei so viel technischem Fortschritt nicht mit, die Friedrich-Ebert-Stiftung schrieb von einer "Kluft zwischen Reich und Arm, Jung und Alt, Stadt und Land". Oft müssen Kinder den Eltern oder Großeltern helfen, aber die Steuererklärung dauert bei den meisten nur wenige Minuten, denn fast 95 Prozent der Esten machen das online. "Auch die über 50-Jährigen erledigen das zu Hause", sagt Sass. "Die Zeiten sind vorbei, in denen sie im Amt stundenlang in der Schlange stehen."

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Quelle:
SZ vom 12.11.2018
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