Essay:Schwäbischer Irrtum

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Die Zukunft nicht aus dem Blick verlieren: Ferry Porsche (hinten) und sein Vater Ferdinand sehen sich am Reißbrett eine Konstruktionszeichnung des späteren VW Käfer an. (Foto: dpa)

In der Krise kürzen Unternehmen oft Ausgaben für die Forschung. Das ist riskant, weil es ihre Zukunft aufs Spiel setzt. Sparen ist gerade in schweren Zeiten nicht immer das richtige Rezept.

Von Karl-Heinz Büschemann

Das Leitbild ist einfach zu schön: Die schwäbische Hausfrau, die das Geld der Familie zusammenhält, regelmäßig ein paar Groschen zur Seite legt und dafür sorgt, dass auch noch etwas zu essen auf dem Tisch steht, wenn die Zeiten schlechter werden. Das "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" ist eine ökonomische Handlungsmaxime, die einem Menschen mit durchschnittlicher Ausstattung an Verstand als vernünftig erscheinen muss. Trügerisch ist dieser ökonomische Imperativ zur Vorsicht aber auch. Er kann die Not auch verstärken.

Kann es sein, dass vernünftig erscheinendes Handeln trotzdem gefährlich ist? Es kann. Als Beispiel seien Deutschlands Automobilhersteller genannt, die in diesem Corona-Jahr besonders gelitten haben, weil die Weltwirtschaft in eine globale Rezession gerutscht ist. Hauptgrund dafür ist die Pandemie, die das Handeln von Menschen und Unternehmen gravierend einschränkte und ganze Branchen zum wirtschaftlichen Absturz brachte. Was aber ist zu tun, wenn der Absatz drastisch zurückgeht und die Verluste wachsen? Die Antwort ist: Gas geben!

Das ist aber offenbar leichter gesagt als getan, denn die Realität sieht anders aus. Deutschlands berühmtestes Autoflaggschiff, der Daimler-Konzern, der im ersten Halbjahr von 2020 einen schockierenden Verlust von 1,7 Milliarden Euro wegstecken musste, hat gerade seine Investitionen um ein Viertel gekürzt. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung, also die Geldmittel, die neuen Produkten und damit der Zukunft des Unternehmens gelten, wurden um sieben Prozent gesenkt. Volkswagen, der größte Autokonzern Europas, hat ebenfalls einen Gewinneinbruch hinter sich und investierte in den ersten neun Monaten dieses Jahres etwa 4,5 Prozent weniger, bedingt vor allem durch Corona. Auch BMW spart, aber nicht ganz so rigoros wie die Konkurrenten.

Die Branche handelt vorsichtig. Sie steht offenbar unter Schock. Sie stand im Frühjahr vor stillstehenden Fabriken, weil in der allgemeinen Corona-Verunsicherung kaum jemand noch ein neues Auto kaufen wollte. Gewaltige Rabatte sollten die Geschäfte am Laufen halten, und das laute Betteln um staatliche Unterstützung ließ die einstige Vorzeigebranche als verwundbar erscheinen.

Die Vorsicht der Autobranche ist auch Ausdruck ausgeprägter Zukunftsangst

Gleichzeitig sorgte die Konkurrenz für ordentlichen Druck, egal ob es der US-Elektroautobauer Tesla ist, der mitten in der Krise in Deutschland ein neues Werk baut, oder ob es die chinesischen Wettbewerber sind, deren Verkaufszahlen inzwischen wieder deutlich nach oben weisen. Da kann es nicht wundern, wenn in der Branche die Vorsicht umgeht, die auch Ausdruck ausgeprägter Zukunftsangst ist. Die Bedrohung, jetzt ganz neue und klimafreundliche Antriebe entwickeln zu müssen, ist groß. Aber wenn die Autoindustrie dies in gewaltige Verunsicherung stürzt, bedeutet das wenig Gutes für die gesamte deutsche Volkswirtschaft. Keine Branche trug zuletzt so stark zum Wohlstand der Deutschen bei wie die Exportmaschine Autoindustrie.

Die neue Vorsicht ist aber keine Besonderheit der Autobranche. In der Corona-Krise regiert in vielen Unternehmen die Zurückhaltung. Fachleute sehen diese Entwicklung bereits mit einiger Sorge. Das Ifo-Institut stellte schon im Frühjahr einen bedrohlichen Rückgang der Investitionen in den deutschen Unternehmen fest. Etwa die Hälfte der Firmen hätten die Ausgaben gedrosselt. Das sei beunruhigend für die längerfristige Entwicklung der Wirtschaft, urteilte das Münchner Institut. Im gesamten Jahr 2020 gingen die Investitionen wahrscheinlich um mehr als zehn Prozent zurück.

Die defensive Haltung kann kaum überraschen. Sie entspricht einem gängigen Handlungsmuster in Abschwungzeiten. Wer einen drastischen Umsatzrückgang, vielleicht sogar Verluste hinnehmen muss, kann nicht wie in guten Zeiten aus dem Vollen schöpfen. Und wer weiß schon genau, wie es nach der Krise weitergeht? Manchmal ist es für ein Unternehmen sogar notwendig zu sparen, um bei flauen Geschäften die nötige Liquidität zu erhalten. Aber es gibt viele Möglichkeiten, Umsicht walten zu lassen - manchmal sogar in Verbindung mit Weitsicht.

Unternehmen, die unter dem Druck der Aktionäre stehen, handeln oft kurzfristig statt langfristig-nachhaltig

Allerdings, es gibt eine Verlockung: die kurzfristige Lösung. Wer Kosten sparen muss, hat den schnellsten Effekt in den Büchern, wenn Mitarbeiter entlassen (oder in Kurzarbeit geschickt) und Ausgaben verringert werden. Diese Wirkung ist garantiert. Investieren dagegen ist teuer und zudem ein Risiko. Der Erfolg der Vorleistung wird sich erst später zeigen, vielleicht auch gar nicht. Das ist ein mächtiger Anreiz, sich für die Vorsicht zu entscheiden. Deshalb sind harte Schnitte so beliebt bei Unternehmen, die nur einen kurzen Planungshorizont haben oder unter dem Druck von aggressiven Aktionären stehen, denen die kurzfristige Steigerung des Aktienkurses wichtiger ist als die langfristig-nachhaltige Entwicklung eines Unternehmens .

Das Gebot zum Sparen bei Investitionen in unsicheren Zeiten steht in merkwürdigem Widerspruch zu den Legenden, die gerne in Lehrbüchern über das Unternehmertum verbreitet werden. Erfolgreiche Firmengründer werden geradezu inflationär für ihre Entschiedenheit gelobt, weil sie für ihr Firmenwagnis ihr gesamtes Kapital riskierten. In den Chefetagen der etablierten Unternehmen dagegen gilt die Vorsicht als zentrale Tugend.

Dabei wäre es klug, gerade in schlechten Zeiten die Weichen für das Geschäft nach der Krise zu stellen. Wenn alle anderen sparen und die Investitionen zurückfahren, legen weitsichtige Unternehmen die Grundlage für das Manöver, an der zögerlichen Konkurrenz vorbeizusegeln. Der oft verbreitete Einwand, es könne kein Erfolgsrezept sein, mit den finanziellen Reserven nur so um sich zu werfen, und schon seien die technologischen Erfolge von morgen gesichert, ist natürlich berechtigt. Gute Ideen, wofür das Geld ausgegeben werden soll, sind die Grundlage für unternehmerischen Erfolg. Aber ohne Geld sind Erfolge ebenfalls unmöglich .

Das atemberaubende Erobern der Märkte durch den amerikanischen E-Auto-Hersteller Tesla kann keine simple Blaupause für Volkswagen oder Daimler sein, wenn es darum geht, die Mobilität der Zukunft zu entwickeln.

Für den US-Neuling gelten Sondergesetze wie für fast alle Start-ups im Elektronik- und Digitalzeitalter. Obwohl das 2003 gegründete Unternehmen die meiste Zeit seiner Geschichte Geld regelrecht verbrannt hat, reißen sich Investoren in der ganzen Welt darum, diesem Senkrechtstarter der Autowelt immer neue Milliarden zuzuschieben. Die Märkte glauben an die Strategie des Neulings. Klassische Autobauer dagegen müssen sich fragen lassen, ob sie den Abzweig in die Zukunft nicht längst verpasst haben.

Volkswagen und Daimler haben sich durch eigene Fehler zusätzlich selbst geschwächt

Aber nicht immer ist es psychologisch begründete Zögerlichkeit von Managern, die den Sturm nach vorne bremst. Dafür sind wieder die Autohersteller anschauliche Beispiele. Traditionelle Fahrzeuglieferanten haben es im Moment mit zwei Beschwerden zu tun; einige sogar mit einer Vorerkrankung. Die erste Gefahr ist der technologische Umbruch. Der allein kann ein Unternehmen schon in Gefahr bringen. Der Verbrennungsmotor braucht Alternativen, die zu entwickeln gewaltige Summen an Geld verschlingt, und gleichzeitig müssen die bisherigen Antriebe am Leben gehalten und weiterentwickelt werden. Sie werden noch lange auf dem Markt sein, nicht zuletzt in Weltgegenden, in denen die Infrastruktur für moderne Stromautos noch für Jahrzehnte fehlen wird. Im Gegensatz zu den modernen Teslas dieser Welt müssen die Daimlers und Toyotas eine teure Doppelbelastung stemmen, weil sie noch für einige Zeit zwei Technologien parallel im Programm haben müssen. Wenn dann noch eine Rezession zuschlägt, die den Absatz einbrechen lässt und zum Beispiel den VW-Konzern zeitweilig zwei Milliarden Euro pro Woche kostete, werden die Spielräume für unternehmerisches Vorwärtsstreben schnell eng. Tesla muss sich nur um die E-Mobilität kümmern.

Zudem haben sich Volkswagen und Daimler durch eigene Fehler selbst geschwächt. Volkswagen (ein wenig auch Daimler) hat es für richtig gehalten, den Diesel-Verbrennungsmotor auch dadurch konkurrenzfähig zu halten, dass der Ausstoß von schädlichen Abgasen mithilfe von Betrug scheinbar gesenkt wurde. Das hat den Wolfsburger Konzern wohl mindestens 30 Milliarden Euro gekostet.

Dieses Geld und die Management-Kapazitäten, die in die Abwicklung des Desasters gesteckt wurden, fehlen naturgemäß beim Kampf um neue Technologien. Ähnlich verlustreich war der Ausflug von Daimler in den Neunzigerjahren nach Amerika, als der damalige Konzernchef Jürgen Schrempp den Zusammenschluss mit Chrysler durchsetzte. Wie groß dieser Fehler war, zeigte sich daran, dass der amerikanische Partner nur zwei Jahre nach dem 2007 verkündeten Rückzug der Deutschen pleite war. Die Stuttgarter spüren bis heute, dass sie im Wettrennen um die automobile Zukunft noch immer diese Hypothek mit sich herumschleppen.

In der Volkswirtschaftslehre ist es schon lange bekannt, dass es ein Fehler ist, in einem Moment auf die Bremse zu treten, in dem es darauf ankommt, offensiv zu sein. Der britische Ökonom John Maynard Keynes hat schon vor vielen Jahrzehnten die Lehre entwickelt, dass der Staat mit der Erweiterung seiner Ausgaben in konjunkturellen Schwächephasen einen Beitrag zur Erholung der Gesamtwirtschaft leisten sollte. Damit wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA wie in Europa der Grundstein für die ökonomische Erholung gelegt. In der Unternehmenskultur hat sich dieses antizyklische Denkprinzip noch nicht ausreichend durchgesetzt. Ein Betriebswirtschafts-Keynes, der die Unternehmenslandschaft mit einem neuen Denken mitreißt, hat sich noch nicht erfolgreich zu Wort gemeldet.

Es wird Zeit zu erkennen, dass das vorsichtige Denkmuster der schwäbischen Hausfrau, das in Privathaushalten seine Meriten hat, in Unternehmen viele Nachteile hat. Dort kommt es auf langfristiges Denken an, auf eine weitsichtige Vorsorge auch für eine Zeit in späteren Jahrzehnten.

Andere praktizieren dieses Denken bereits. China ist schon seit einiger Zeit dabei, sich vor anderen großen Volkswirtschaften der Welt aus der Corona-Krise herauszubewegen, und wird vermutlich bald beweisen, dass es in dieser Pandemie den ökonomischen und technologischen Abstand zwischen Amerika und Europa verringert hat.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir bei der ökonomischen Handlungsmaxime "Spare in der Zeit, dann hast du in der Not" fälschlicherweise Zeit und Not in der Reihenfolge vertauscht.

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