Vor der Wahl drängen die Volksparteien zur Mittelschicht wie Motten zum Licht, denn die Mitte verheißt die Macht. Auch vor der Bundestagswahl 2017 versprachen Union und SPD einiges. Doch eine Regierung entsteht nur quälend. Gerade Menschen aus bürgerlicher Mitte und traditionellen Milieus wandten sich von Union und SPD ab - und wählten mehr Parteien in den Bundestag als je, allen voran die Populisten von der AfD. Diese Ohrfeige für die Volksparteien lässt sich nicht nur mit dem Flüchtlingsstrom erklären. Sie wirft auch ökonomische Fragen auf. Hat die Mittelschicht Gründe, wirtschaftlich unzufrieden zu sein? Und wird das Notbündnis nervöser Volksparteien für eine neue Regierung noch mehr Unzufriedenheit produzieren, die am Ende die Demokratie gefährdet - oder gibt es eine Strategie, welche die Situation verbessert?
Wer nach Antworten sucht, muss erst mal beantworten, was das überhaupt ist, die Mittelschicht. Ökonomen halten sich, wie meist, an Zahlen fest. Sie zählen jene dazu, die 60 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens verdienen. Judith Niehuis vom Institut der Deutschen Wirtschaft zieht den Kreis enger: Für sie gehören Singles mit 1500 bis 2500 Euro netto im Monat dazu, und Familien mit zwei Kindern zwischen 3000 und 5500 Euro. Gemeinsam ist den Definitionen, dass sie die Mitte auf 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung beziffern, also: auf die Mehrheit.
Da zählen Facharbeiter dazu, Handwerker, Angestellte mit Lehre und Dienstleister aller Art. Seit nicht mehr drei, sondern 30 Prozent der Schüler studieren, nehmen die Akademiker stark zu. Der Soziologe Andreas Reckwitz erkennt da eine hoch qualifizierte "neue Mittelklasse". Viele von ihnen heben sich von der traditionellen Mitte kulturell ab. Statt vorrangig um Pflichterfüllung und Materielles geht es ihnen, inspiriert von der Gesellschaftswende der 68er-Generation, stärker um Selbstverwirklichung, Lebensqualität und kosmopolitische Offenheit. Eher Sabbatical denn Sonderschicht, eher Superfood denn SUV.
Unser Wirtschaftssystem basiert auf dem Versprechen: Wer nach oben will, kommt nach oben
Auf jeden Fall ist die Mittelschicht schon ganz lange mehr als eine Realität: Sie ist ein Sehnsuchtsziel. In Umfragen möchten sich mehr Deutsche dazuzählen, als tatsächlich dazugehören. Unser Wirtschaftssystem basiert seit dem Zweiten Weltkrieg auf diesem Versprechen: Wer wirklich nach oben will, kommt nach oben. In ein Leben (und Alter) ohne Reichtum, aber jenseits materieller Sorgen, in dem es den Kindern noch besser gehen wird - und es zu Ferien auf Bali reicht statt nur Benidorm.
Aufstieg klappt, und die Mitte stellt die Mehrheit: Diese Formel ließ die Marktwirtschaft fair erscheinen, sie hielt die Gesellschaft zusammen. Das war markant anders als früher. In der Weimarer Republik stellte die Unterschicht die größte Gruppe.
In der Bundesrepublik dagegen entstand sogar eine größere Mittelklasse als in Großbritannien oder Italien. Die Ökonomen Gerhard Bosch und Thorsten Kalina erklären das mit einem dichterem sozialen Netz und mehr Tarifverträgen als in Nachbarstaaten. Von der Zufriedenheit mit dem Wirtschaftssystem profitierten die deutschen Unternehmen und Volksparteien gleichermaßen: Wilde Streiks und Klassenkampf erschweren das wirtschaftliche Geschäft genau wie das politische.
Heute, da so viele Bundesbürger Arbeit haben wie nie, müsste die Zufriedenheit größer sein denn je. Und auch die Zustimmung zur Kanzlerin Angela Merkel, in deren Amtszeit die Volkswirtschaft nun fast ein Jahrzehnt wächst. Doch von Begeisterung kann, siehe Wahlergebnis, keine Rede sein.
Mancher schließt daraus, die Deutschen seien 70 Jahre nach dem letzten Krieg einfach sehr anspruchsvoll. Um nicht zu sagen: nörgelig. Ist das so? Ganz sicher hat der Protest der Mitte noch mit etwas anderem zu tun. Unter der glänzenden Oberfläche des Booms brodelt es, denn der Erfolg wird ungleich verteilt.