Die EU-Börsenaufsicht ESMA in Paris hat wichtige Aufgaben - und seit April keinen Chef mehr. An diesem Zustand wird sich so schnell nichts ändern, scheint es: wegen eines Streits zwischen der deutschen und italienischen Regierung über den besten Nachfolgekandidaten. Übergangsweise führt die Generaldirektorin der finnischen Börsenaufsicht, Anneli Tuominen, die Pariser Behörde nebenher. Aber in einem Brandbrief an die zuständigen EU-Finanzminister warnt sie, dass das lange Vakuum an der Spitze die Arbeit der ESMA beeinträchtigen könnte.
Die Pariser Einrichtung wurde 2011 als Lehre aus der Finanzkrise gegründet. Sie soll Risiken für die Finanzmärkte identifizieren und sicherstellen, dass die nationalen Börsenaufseher die Regeln einheitlich anwenden. Daneben überwacht die ESMA direkt die Ratingagenturen in der EU. Im März endete die Amtszeit des Niederländers Steven Maijoor als Vorsitzender der ESMA. Bereits im vorigen November schlug die Behörde drei Nachfolgekandidaten vor; sie schickte die kurze Liste an den EU-Ministerrat, das Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten, und an das Europäische Parlament. Die EU-Finanzminister müssen sich auf einen Kandidaten einigen, danach muss das EU-Parlament der Auswahl zustimmen.
Doch bei den Ministern geht nichts voran, weil sich Deutschland und Italien gegenseitig blockieren. Die Bundesregierung und die Mehrheit der anderen EU-Staaten würden gerne die Deutsch-Britin Verena Ross auf dem Posten sehen. Die 53-jährige Volkswirtin und Sinologin hat früher unter anderem für die Bank of England und die Hongkonger Börsenaufsicht gearbeitet. Von 2011 bis Ende Mai 2021 war sie Exekutivdirektorin der ESMA und damit Maijoors Stellvertreterin. Den Posten musste sie räumen, da man ihn nur zehn Jahre bekleiden darf.
Italien und andere südeuropäische Länder unterstützen dagegen Carmine Di Noia. Der promovierte Volkswirt sitzt im Vorstand der italienischen Börsenaufsicht. Dritter Name auf der ESMA-Kandidatenliste war die frühere portugiesische Finanzministerin Maria-Luis Albuquerque, aber die ist de facto aus dem Rennen.
Es mangelt nicht an Briefen - aber an Fortschritten
Die finnische Finanzaufseherin Tuominen, die jetzt die ESMA nebenher führt, schickte ihren Beschwerdebrief an Andrej Šircelj, den Finanzminister Sloweniens. Das Land hat im Juli die rotierende Ratspräsidentschaft der EU übernommen - daher leiten die dortigen Minister für sechs Monate die Treffen ihrer EU-Amtskollegen. Tuominen klagt in dem Brief über die portugiesische Ratspräsidentschaft, die im Juni endete: Der portugiesische Finanzminister habe ihren Wunsch ausgeschlagen, sich zu treffen, um über die Malaise zu reden, schreibt die Finnin. Sie bittet Šircelj, die Wahl eines Nachfolgers für den ESMA-Vorsitz mit Dringlichkeit zu behandeln. Schließlich blieben die Risiken in den Märkten, auf welche die ESMA ein Auge hat, "sehr hoch", und das Arbeitsprogramm für 2021 sei anspruchsvoll. Ohne Nachbesetzung an der Spitze fehle "strategische Führung".
Auch der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber kritisiert die Hängepartie. Sie werfe "ein ganz schlechtes Licht auf die Handlungsfähigkeit der EU", sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der christdemokratischen EVP-Fraktion. Im Wirtschafts- und Währungsausschuss des Europaparlaments unterstützt die Mehrheit der Abgeordneten offenbar Ross. Außerdem schickte Evelyn Regner, die Vorsitzende des Ausschusses für Frauenrechte, einen Brief an die slowenische Ratspräsidentschaft, in dem sie für die Deutsch-Britin warb. Schließlich seien Frauen an der Spitze von EU-Institutionen unterrepräsentiert, argumentierte die österreichische Sozialdemokratin. Ihre italienische Fraktionskollegin Irene Tinagli watschte Regner dafür allerdings ab: Tinagli leitet den für das Thema zuständigen Wirtschafts- und Währungsausschuss und verbat sich in einem geharnischten Brief die Einmischung Regners. An Briefen mangelt es also nicht - wohl aber an Fortschritten.