Enzensberger schreibt für den Pirelli-Geschäftsbericht:Heißer Reifen

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Ein Geschäftsbericht ist normalerweise ein Ort für kryptische Ziffernkolonnen. Pirelli will ein bisschen mehr bieten. Für den neusten Report schreibt nun der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger einen Essay. Zwischen den Zahlen stellt er die Frage: Wie ist es möglich, mitten im Kapitalismus längere Zeit zu überleben?

Thomas Fromm

Wenn Kultur und Wirtschaft aufeinandertreffen, kann das ganz unterhaltsam sein. Weil man am Anfang nie weiß, was am Ende dabei herauskommt. Im Jahre 1960 zum Beispiel machte der Schriftsteller und Essayist Hans Magnus Enzensberger einen vielbeachteten Selbstversuch: Er besprach den Neckermann-Katalog.

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger steuert einen Essay für den Jahres-Geschäftsbericht 2011 des Pirelli-Konzerns bei (Archivfoto aus dem Jahr 2004). (Foto: Bernd Settnik/dpa)

Der dicke Wälzer muss ihn - allein schon wegen der Millionenauflage - so sehr beeindruckt haben, dass er in der Zeit einen Aufsatz mit dem Titel "Unsere kleinbürgerliche Hölle" verfasste. Heraus kam ein Beispiel für die eher seltene publizistische Form der Versandhauskatalog-Rezension ("ein Bestseller ohne Autor", "umfasst knapp vierhundert Seiten ... und ist üppig, beinahe ausschweifend illustriert. Dabei kostet er nur zwei Mark.").

Enzensberger und Neckermann, Kursbuch und Katalog, der Kritiker der Bewusstseinsindustrie und die Versender von Büstenhaltern, Taschenlupen und "prachtvoll ausgestatteten Geschenkbänden" wie "Die letzten Tage von Pompeji" und "Ben Hur". Zwei Welten - und ein großartiger Text.

Mehr als 50 Jahre nach der Neckermann-Rezension ist Enzensberger nun mit einem Essay im harten publizistischen Kern des Kapitalismus angekommen: im Jahres-Geschäftsbericht 2011 des Mailänder Pirelli-Konzerns. Im Geschäftsbericht, wohlgemerkt nicht im ebenfalls von Pirelli herausgegebenen Kalender, in dem es nur am Rande um Zahlen geht.

Pirelli-Geschäftsberichte sind, anders als die Pirelli-Kalender, wie alle Geschäftsberichte: schwer verdaulich. Es sind sogenannte Pflichtveröffentlichungen, und sie bestehen in der Regel aus unsinnlichen Zahlenkolonnen, verwirrenden Kurven und kryptischen Aneinanderreihungen von Tabellen. Wer nicht gerade Analyst oder kundiger Aktionär ist, für den sind solche Publikationen eher eine Tortur.

Es ist also eher unwahrscheinlich, dass es bis dato eine größere Schnittmenge von Menschen gab, die sowohl Enzensberger als auch Pirelli-Geschäftsberichte lasen. Was sich hiermit ändern dürfte.

"Wie ist es möglich, mitten im Kapitalismus längere Zeit zu überleben?"

Enzensberger outet sich in seinem kurzen Pirelli-Essay (Überschrift: "Wie ist es möglich, mitten im Kapitalismus längere Zeit zu überleben?") sehr schnell als früher Fan italienischer Reifen-Kultur. "Auch Giganten sind sterblich", schreibt er. Pan American, Woolworth, Kodak, AEG, Enron, Lehman Brothers. "Pleiten gehören zum Betriebssystem."

Ein bisschen Joseph Schumpeter und die Kraft der schöpferischen Zerstörung, dann kommt Enzensberger auch schon zur Kernfrage: Wie konnte eine kleine Gummifabrik, die vor 140 Jahren in Mailand gegründet wurde, überhaupt so lange überleben? "Ich weiß es nicht. Denn ich bin kein Experte", gibt der Autor zu - und nennt dann aber doch einige Gründe: "gute Fußarbeit", "gute Nerven", langfristiges Denken. Qualitäten, die jeder brauche, auch Musiker, Regisseure und Schriftsteller. Wer nur auf den nächsten Quartalsbericht blicke, werde "nicht lange durchhalten".

Klare Worte eines Mannes, der sich seit Jahrzehnten an den kalten Spielregeln des Kapitalismus abarbeitet. Nicht nur Analysten und Pirelli-Aktionäre dürften sich fragen, warum er sich dafür ausgerechnet den Geschäftsbericht von Pirelli ausgesucht hat. So wie die anderen Künstler und Autoren, die ebenfalls hier vertreten sind. Etwa der US-Reiseschriftsteller William Least Heat-Moon, der über den Zusammenhang von amerikanischer Nationenbildung und Autoreifen nachdenkt. Oder der argentinische Essayist Guillermo Martínez. Sie alle schreiben für einen Mailänder Reifenkonzern.

Das alles ist zumindest ungewöhnlich. Vielleicht sind die Dinge ja so, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Vielleicht aber ist alles auch ganz anders. Bei Enzensberger jedenfalls ging es schon vor Jahrzehnten um eine neue, eine "emanzipatorische" Medientheorie. Darum, dass aus jedem Empfänger von Kommunikation auch ein Sender werden könne. Hat sich Enzensberger hier einfach nur mal so auf die andere Seite geschlagen? Eine kleine Subversion? In dem Fall wäre das Ganze dann: ein ziemlich heißer Reifen.

© SZ vom 27.04.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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