Entscheiden:Traut euch zu zweifeln!

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Nur wer an sich selbst zweifelt, kann sich verbessern.

(Foto: imago/Westend61)

Die Zeiten sind unsicher, das macht die Entscheidungsfindung in allen Bereichen des Lebens komplizierter. Gut so! Denn Zweifel sind das Beste, was einer Gesellschaft passieren kann.

Essay von Angelika Slavik

Der englische Fußballtorhüter Paul Cooper hat Anfang der Achtzigerjahre mal von zehn Elfmetern, die in der Saison gegen seine Mannschaft gepfiffen wurden, acht gehalten. Als er später gefragt wurde, was sein Geheimnis sei, sagte er, am Anfang habe er ein paar Mal einfach Glück gehabt. Dann aber sei wegen seiner guten Bilanz der Zweifel in die Köpfe der Schützen gekrochen. "Ihr Selbstvertrauen schrumpfte, während meines immer weiter wuchs." Und deswegen seien die Fußballer reihum an ihm gescheitert.

Seither sind fast vier Jahrzehnte vergangen, aber der Ruf des Zweifelns hat sich seit damals kaum verändert. Die landläufige Meinung lautet: Wer zweifelt, verliert. Das ist ziemlich bedauerlich, denn in Wahrheit passt kein Gefühl besser in unsere Zeit als jede Art von Zweifel.

Auch in unsicheren Zeiten müssen Entscheidungen getroffen werden

Der Welt sind zuletzt zahlreiche Konstanten abhandengekommen - das macht die Entscheidungsfindung in vielen, vielleicht allen Bereichen komplizierter als jemals zuvor. Die künftige Wirtschafts- und Handelspolitik der USA ist praktisch nicht prognostizierbar. Deutschland ringt um einen gesellschaftlichen Konsens im Umgang mit den vielen Flüchtlingen - wie der aussehen wird und wie die Rolle der Unternehmen bei der Integration genau aussehen kann, ist bislang unklar. Und der technologische Fortschritt hat so weitgreifende, ja fundamentale Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der Wirtschaft, dass kaum vorherzusehen ist, unter welchen Umständen sich Unternehmen, Mitarbeiter, Selbständige in drei, fünf oder zehn Jahren werden behaupten müssen.

Dennoch müssen Menschen auch unter Einfluss dieser vielen Unsicherheitsfaktoren Entscheidungen treffen; oft Entscheidungen, die für sie selbst, für ihre Familie, für ihre Angestellten oder für ihr Land von existenzieller Wichtigkeit sind und sein werden. Es ist schwer vorstellbar, dass das gelingt, ohne an diesen Entscheidungen auch zu zweifeln - und das ist auch gut so. Denn der Zweifel hat seinen schlechten Ruf völlig zu Unrecht.

Menschen, die in Selbstzufriedenheit erstarrt sind, bringen niemanden weiter

Die Fähigkeit, die eigene Leistung zu hinterfragen, ist die erste und unabdingbare Voraussetzung für Exzellenz in jeder Disziplin. Man sieht das bei Sportlern wie dem österreichischen Skifahrer Marcel Hirscher, der auch nach ungefährdeten Siegen gerne mal ungehalten aus dem Zielraum stapft, weil er mit seinem Schwung nicht zufrieden war. Man sieht das bei Unternehmern, wie dem Facebook-Chef Mark Zuckerberg, der seinen Aktionären zwischen vielen beeindruckenden Zahlen gerne auch mal erklärt, dass man im Spielegeschäft wirklich dringend besser werden müsse. Und man sieht das in jedem durchschnittlichen Büro: Da gibt es auf jeder Hierarchiestufe Menschen, die in Selbstzufriedenheit erstarrt sind. Und man findet auf jeder Ebene Menschen, deren Leistung hervorsticht - eben weil sie ständig nach Möglichkeiten suchen, die Ergebnisse ihrer Arbeit zu optimieren.

Die Fähigkeit, zu zweifeln, bringt aber nicht nur den Einzelnen oder die Einzelne weiter, sie ist auch eine zentrale Kompetenz für erfolgreiche Unternehmen. Wer in Zeiten fortschreitender Digitalisierung sein eigenes Geschäftsmodell nicht zu hinterfragen bereit ist, könnte schneller abgehängt werden, als es heute vorstellbar erscheint. An bestehenden Strukturen oder Arbeitsabläufen zu zweifeln, ist unabdingbar, um Innovation zu ermöglichen und im Gegenzug eine Erstarrung zu verhindern.

Was selbst großen Konzernen passieren kann, wenn sie verlernen, sich regelmäßig und grundlegend zu hinterfragen, kann man an unzähligen Beispielen in der Wirtschaftsgeschichte sehen. Der finnische Handyhersteller Nokia zum Beispiel war mal unangefochtener Weltmarktführer in seiner Branche - bis das Unternehmen den Anschluss in Sachen Smartphones verpasste. Der US-amerikanische Jeans-Hersteller Levi's brauchte Jahre, um sich davon zu erholen, den Kontakt zur Zielgruppe verloren und den Trend zu Baggy-Pants verschlafen zu haben. Und die deutschen Autohersteller keuchen gerade der Konkurrenz hinterher, weil sie über lange Zeit die Elektromobilität für eine irre Hippie-Spinnerei gehalten haben, die einem ordentlichen deutschen Verbrennungsmotor ohnehin niemals Konkurrenz machen könnte.

Zweifel auszusprechen, lohnt sich fast immer

Die Fähigkeit, zu zweifeln, bringt viele Vorteile, sie ist essenziell für den Erfolg in der Wirtschaft und vielleicht auch im Leben insgesamt. Trotzdem wollen sich nur die wenigsten beim Zweifeln erwischen lassen. Die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Ausdruck "alternativlos" sogar zu einem der prägenden Begriffe ihrer Kanzlerschaft gemacht - eine eindeutigere Abfuhr kann man der Idee des gepflegten Zweifels kaum erteilen. Auch in der Wirtschaft lassen sich viele Führungskräfte nur ungern bei der Entscheidungsfindung in die Karten schauen, wenn sie unsicher sind. Man kann annehmen, dass sie fürchten, öffentlich artikulierter Zweifel würde ihnen als Schwäche ausgelegt werden. Ein Fehler.

Die zentrale Aufgabe von Menschen in leitenden Positionen ist immer Kommunikation. Wer das hinbekommt, hält die Stimmung im Team konstant und seine Mitarbeiter motiviert. Wer an dieser Herausforderung scheitert, verunsichert seine Leute - was sich negativ auf ihre Leistung auswirkt. Die eigenen Zweifel zu kommunizieren, ist für Führungskräfte sicher die kommunikative Königsdisziplin.

Doch die Anstrengung lohnt sich: Wer in unsicheren, für das Unternehmen vielleicht schwierigen Zeiten weitreichende Entscheidungen trifft, tut gut daran, Überlegungen und Unsicherheiten mit der Belegschaft zu teilen. Zum einen, weil es für die Menschen nachvollziehbar machen wird, warum man dem einen Argument schlussendlich mehr Gewicht zugemessen hat als dem anderen. Das wird, auch wenn einzelne Mitarbeiter vielleicht anders entschieden hätten, die Akzeptanz dieser Maßnahmen erhöhen und ihre Umsetzung erleichtern. Und zum anderen, weil es die Loyalität der Mitarbeiter erhöht, wenn sie den Chef oder die Chefin auch auf der menschlichen Ebene wahrnehmen können, nicht nur als Entscheidungsverkündungsmonster mit Dienstwagen. "Emotionale Führung" nennen Wissenschaftler diese Strategie: Man arbeitet lieber und effektiver für jemanden, den man nicht total verachtet.

Zweifeln und trotzdem entscheiden - das ist die Kunst

Dass der Zweifel und vor allem die Kommunikation des Zweifels trotzdem so einen schlechten Ruf hat, mag daran liegen, dass es ein schmaler Grat ist zwischen Zweifeln und Zaudern. Denn natürlich bedeutet die Fähigkeit, Unsicherheit zuzulassen, nicht, dass man nicht trotzdem eine Entscheidung treffen sollte - und treffen kann. Die Kunst des Zweifelns besteht darin, die Unsicherheit zu ertragen und trotzdem zu einer Entscheidung und ihren Konsequenzen zu stehen.

Das fällt naturgemäß jenen leichter, die sich auch in komplizierten Zeiten auf ein Gerüst aus Werten und Überzeugungen verlassen können. Jene, die wissen, wofür sie stehen und wofür nicht, sind bei der Entscheidungsfindung also dramatisch im Vorteil gegenüber jenen, die bislang einfach immer die Option gewählt haben, die ihnen entweder die größten Vorteile oder die wenigsten Probleme bringt. Vielleicht könnte man also sagen, dass unsichere Zeiten Chefs mit menschlichen Qualitäten bevorzugen - wogegen es Rückgratlose und Opportunisten im Umgang mit den eigenen Zweifeln weitaus schwerer haben.

Ein Grund, warum Zweifeln so einen schlechten Ruf hat, ist, so banal das nun klingen mag, dass es eben ein unangenehmes Gefühl ist. Die meisten Menschen streben nach Sicherheit, und dazu zählt auch die Sicherheit, alles richtig gemacht zu haben. Wenn die Umstände das aber nicht mehr hergeben, weil Sicherheit und Gewissheit in unserer Zeit nun mal schwer zu bekommen sind, lohnt es sich, zu überlegen, welche Entscheidungen eine Auseinandersetzung mit den eigenen Zweifeln rechtfertigen und welche nicht. Die Frage, ob man Menschen entlassen sollte, um die Firma und damit die Jobs der anderen Beschäftigten zu retten, ist jeden Zweifel und jede schlaflose Nacht wert. Die Frage, ob man der ohnehin nörgelnden Schwiegermutter am Sonntag Fleisch oder Fisch vorsetzt, eher nicht.

"Der Zweifel am Sieg entschuldigt nicht die Aufgabe des Kampfes", hat die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach mal geschrieben. Vielleicht ist das auch fast 150 Jahre später ein hübsches Motto für Entscheidungsfindung in unsicheren Zeiten.

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