Süddeutsche Zeitung

Energiewende: Fragen und Antworten:Atomausstieg - und jetzt?

Der neue Atomausstieg ist da: 2022 soll der letzte Meiler vom Netz. Doch der Beschluss der schwarz-gelben Koalition wirft neue Fragen auf: Wie könnte das Modell eines Reserve-Reaktors funktionieren? Was passiert mit der Brennelementesteuer? Und gibt es auch ohne Atomkraftwerke genug Strom? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Die Bundesregierung hat sich geeinigt: 2022 soll der letzte Atommeiler vom Netz gehen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Atomausstieg.

Wie sieht der neue Atomausstieg aus?

Die Mehrheit der deutschen Atomkraftwerke soll bis 2021 unumkehrbar stillgelegt werden. Die letzten Meiler sollen bis spätestens Ende 2022 abgeschaltet werden. Die sieben ältesten derzeit abgeschalteten Atommeiler und das Kernkraftwerk Krümmel gehen nicht wieder ans Netz. Allerdings soll einer der Altmeiler bis 2013 als Reaktor auf Stand-by dienen.

Was ist ein Stand-by-Kraftwerk?

Es soll hochgefahren werden, wenn in den Wintern 2011/2012 und 2012/2013 die Energie nicht reicht. Im Winter liefern Solarzellen viel weniger Energie, die Nachfrage ist außerdem tendenziell höher. Die Regierung spricht von einer kalten Reserve. Welcher Altmeiler auf Stand-by stehen wird, soll die Bundesnetzagentur auswählen. Im Gespräch als Reserve-Meiler sind Philippsburg 1 oder Biblis B.

Wie schnell könnte ein kaltes Kraftwerk wieder hochfahren?

Ein Atomkraftwerk kann nicht so einfach hoch- und runtergefahren werden wie ein Computer. Reaktoren werden regelmäßig für die Revision komplett ausgeschaltet. Dazu wird Kühlwasser mit Bor eingelassen, was die Spaltung verlangsamt. Die Steuerstäbe werden eingeführt, die Kettenreaktion wird unterbrochen. Ähnlich sieht der Prozess aus, wenn nach den Überprüfungen das Kraftwerk wieder in Betrieb genommen wird. Das Hochfahren wird Schritt für Schritt vorgenommen, begleitet von Tests. Dieser Prozess dauert mehrere Tage.

Unklar ist noch, welches Modell die Bundesregierung meint, wenn sie von kalter Reserve spricht. Soll das Stand-by-AKW wie bei einer Revision komplett abgeschaltet werden? Es ist auch denkbar, ein Atomkraftwerk mit minimaler Leistung laufen zu lassen und es an die Schwankungen der erneuerbaren Energien anzupassen. Das ist die heutige Praxis, wenn Atomkraftwerke beispielsweise am Wochenende heruntergeregelt werden und die Nachfrage gering ist. Das wäre jedoch kein Abschalten.

Was wird aus der Brennelementesteuer und mit der Abgabe zur Förderung des Ökostroms?

Die Brennelementesteuer bleibt. Bisher sollten dank ihr bis 2016 rund 2,3 Milliarden pro Jahr in die Kassen des Bundes fließen. Dies war jedoch stets eine optimistische Schätzung, wenn man nach den Berechnungen der Forscher des atomkritischen Öko-Instituts geht (PDF-Datei). Bei einem Aus für bis zu acht AKW verringern sich die Einnahmen demnach auf 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.

Außerdem hatte die Regierung die Laufzeitverlängerung mit einem Sonderfonds kombiniert, zusätzlich zur Brennelementesteuer. Die Atomkonzerne sollten ihre Sondergewinne aus der verlängerten Laufzeit in ihn einzahlen, um Ökostrom zu fördern. Darauf hatten sich Regierung und Atomkonzerne in einem Vertrag geeinigt (PDF-Datei). Bei einer Rücknahme der Laufzeitverlängerung werden die geplanten Zahlungen in den Fonds von rund 16 Milliarden Euro aber hinfällig.

Welche Kraftwerke laufen weiter?

Seit dem Moratorium sind die sieben ältesten deutschen Meiler abgeschaltet. Vom Netz ist außerdem das AKW Krümmel. Weiterlaufen sollen dagegen folgende Atomkraftwerke (in Klammern das Jahr, in dem eigentlich die Laufzeit bislang enden sollte):

Neckarwestheim 2, Baden-Württemberg, Haupteigentümer: EnBW (2036)

Philippsburg 2, Baden-Württemberg, Haupteigentümer: EnBW (2032)

Isar 2, Bayern, Haupteigentümer: Eon (2034)

Grafenrheinfeld, Bayern, Haupteigentümer: Eon (2028)

Gundremmingen B, Bayern, Haupteigentümer: RWE/Eon (2030)

Gundremmingen C, Bayern, Haupteigentümer: RWE/Eon (2030)

Grohnde, Niedersachsen, Haupteigentümer: Eon (2032)

Lingen, Niedersachsen, Haupteigentümer: RWE/Eon (2034)

Brokdorf, Schleswig-Holstein, Haupteigentümer: Eon/Vattenfall (2033)

Zeit-Online bietet eine Infografik, in der mit einem Regler eingestellt werden kann, wie viele Menschen in einem bestimmten Umkreis um ein AKW wohnen. Auch grenznahe Meiler im Ausland sind verzeichnet.

Wie sieht der Strommix in Zukunft aus?

Klar ist: Der Anteil erneuerbarer Energien wird steigen. Dies ist Konsens in allen Parteien, Umweltverbänden - und auch bei den Energiekonzernen. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung könnte sich der Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix bis zum Jahr 2020 auf mindestens 35 Prozent verdoppelt haben. 2010 lag der Anteil von Wasser, Sonne und Biomasse an der Stromerzeugung bei etwa 16,5 Prozent. Kernenergie macht 22,5 Prozent aus. Wie der Strommix in Deutschland aussieht, stellt die AG Energiebilanzen zusammen, ein Zusammenschluss von Wirtschaftsverbänden und Forschungsinstituten. Wie sich der Anteil an der Stomerzeugung nach Energieart seit 1990 bis heute entwickelt hat, ist in dieser PDF-Datei zusammengefasst.

Gibt es auch ohne Atomkraftwerke genug Strom?

Es gibt nicht wirklich zu wenig Strom. Er kommt nur nicht immer dorthin, wo er gebraucht wird, weil die Stromnetze bisher nicht auf den Transport großer Mengen Energie durchs Land ausgelegt sind. Auch fehlen Speicherkapazitäten. Die vier Netzbetreiber 50Hertz, Tennet, EnBW Transportnetze und Amprion warnen deshalb vor einem Blackout. Neben der EnBW-Tochter gehört auch Amprion zu einem AKW-Betreiber, dem RWE-Konzern. Greenpeace kritisiert diese Äußerung als Panikmache.

Die Bundesnetzagentur prüft die Warnung der Netzbetreiber. Der Agenturchef, Matthias Kurth, sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, dass es kritische Fälle gebe: "Wenn es im Winterhalbjahr ein paar Tage praktisch keinen Strom aus erneuerbaren Quellen geben sollte, also weder der Wind weht noch die Sonne scheint, gleichzeitig aber europaweit die Höchstlast im Netz ist, weil etwa in Frankreich die Stromheizungen auf Hochtouren laufen. Wenn dann noch eine Leitung ausfällt, könnte es eine Überlastung des Netzes geben. Das wäre hochriskant." Um dann einen Zusammenbruch zu vermeiden, müssten im Zweifelsfalle Kunden vom Netz abgeklemmt werden.

Um die für den Ökostrom dringend benötigten neuen Netze und Speicher schneller bauen zu können, will die Regierung in Zusammenarbeit mit den Ländern bürokratische Hürden beseitigen. Unter anderem soll daher das Netzausbau-Beschleunigungsgesetz (NABEG) auf den Weg gebracht werden.

Ist der Ausstieg schlecht fürs Klima?

Es kommt darauf an, wie schnell und wie stark der Anteil der erneuerbaren Energien wächst. Der Ausstieg aus der Kernenergie soll eigentlich mit ihnen kompensiert werden. Doch sind auch fossile Kraftwerke in Deutschland im Bau, beispielsweise das Kohlekraftwerk Moorburg in Hamburg.

Um die Emissionen von Treibhausgasen zu reduzieren, ist nach Einschätzung vieler Experten die Atomenergie nötig. So warnt die Internationale Energieagentur IEA, dass die Ausstiegsprogramme in Deutschland und Japan es schwerer machen, die Klimaziele zu erreichen. Noch nie hat die Menschheit mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen als 2010, meldet die Agentur. Atomenergie sei eine der wichtigsten Technologien, Elektrizität ohne Kohlendioxid zu erzeugen, sagte Fatih Birol, Chef-Ökonom der IEA, dem britischen Guardian. Die Lücke, die durch einen Ausstieg zu entstehen droht, ließe sich durch erneuerbare Energiequellen kaum vollständig füllen.

Ähnlich argumentieren Befürworter der Kernenergie schon lange. Selbst frühere Atomkraftgegner wie der US-Ökologe Stewart Brand, Präsident der Long Now Foundation, betrachten Kernenergie heute als unverzichtbare Energiequelle. "Verdammt sauber, wenn es um Treibhausgase geht, und sie kann eine solide Grundlast produzieren", erklärte Brandt kürzlich in der Süddeutschen Zeitung.

Allerdings werfen Atomkraftgegner und Umweltschützer den Befürwortern eine Verschleierungstaktik vor. Schließlich stoßen Atomanlagen zwar im Betrieb kein Kohlendioxid aus, doch müsste man beispielsweise auch den Bau der Kraftwerke und die Entsorgung der Brennelemente einbeziehen. Das Öko-Institut hat 2007 berechnet, dass bei der Erzeugung von Atomstrom in deutschen Kernkraftwerken 31 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde anfallen (PDF-Datei). Tendenz steigend, weil Uran-Erze bereits zum größten Teil erschöpft sind.

Zum Vergleich: Ein Kohlekraftwerk stößt mehrere hundert bis etwa tausend Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde aus. Erheblich über dem AKW-Wert liegen auch die Erdgaskraftwerke. Regenerative Energiequellen wie Windenergie, importierter Solarstrom und Wasserkraft weisen jedoch mit etwa 20 bis 40 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde ähnlich gute Werte auf wie die Atomenergie. Erheblich besser sind Biogasanlagen, die sogar eine positive Kohlendioxidbilanz aufweisen.

Was passiert jetzt mit dem Atommüll?

Nachdem die Frage des Atomausstiegs offenbar gelöst ist, steht die nächste Mammut-Diskussion bevor: Wohin soll der Atommüll? Bisher steht der Salzstock Gorleben in Niedersachsen im Fokus. Seine Eignung ist aber höchst umstritten.

Der Süden Deutschlands war bislang von der Endlagersuche ausgeklammert. Doch das ändert sich nun: CSU-Chef Horst Seehofer spricht sich überraschend für einen Neustart bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll aus. Er sagte am Montag, alle geologischen Aspekte sollten noch einmal neu auf den Prüfstand gestellt werden. "Wir müssen erst mal Deutschland ausleuchten", sagte er. Das hatte vorher schon die neue grün-rote Landesregierung in Baden-Württemberg gefordert: "Wir treten für ein ergebnisoffenes, bundesweites Suchverfahren ein", steht im Koalitionsvertrag (PDF-Datei).

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