Süddeutsche Zeitung

Energiepolitik:Aussteigen, um wieder einzusteigen?

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Allen Argumenten zum Trotz diskutiert Deutschland weiter, ob der Atomausstieg aufgehalten werden muss. Doch der Punkt ist: So schnell geht das gar nicht.

Von Benedikt Müller-Arnold und Christian Wernicke

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine diskutiert die Politik darüber, ob Deutschland später aus der Atom- und Kohleverstromung aussteigen sollte. So könnte man unabhängiger von Gas-Importen aus Russland werden. Deswegen haben sich die Wirtschaftsminister der Bundesländer am Montag in einer Sonderkonferenz über die Energieversorgung beraten. Alle Vertreter hätten deutlich gemacht, "dass wir kurzfristig ohne Denkverbote und Tabus prüfen müssen", sagt der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart. Der FDP-Politiker ist derzeit Vorsitzender der Wirtschaftsminister-Konferenz. "Nach meiner festen Überzeugung müssen alle Alternativen auf den Tisch."

Deutschland hatte nach der Reaktor-Katastrophe in Fukushima im Jahr 2011 beschlossen, nach und nach aus der Kernenergie auszusteigen; die letzten drei Meiler sollen Ende dieses Jahres vom Netz gehen. "Hier stellt sich die Frage: Kann man das Abschalten dieser Kernkraftwerke zum Ende dieses Jahres wieder aufheben?", sagt Pinkwart. Dies könne nur eine Ultima Ratio sein, aber man müsse sie bedenken.

Das Bundeswirtschaftsministerium unter Robert Habeck (Grüne) prüft nach eigenem Bekunden, inwiefern Kohle- und Atomkraftwerke etwaige Versorgungsengpässe ausgleichen könnten. "Es gibt keine Denktabus", sagte Habeck am Sonntagabend. Er werde eine weitere Nutzung der Kernenergie nicht "ideologisch abwehren".

Allerdings habe eine Vorprüfung NRW-Minister Pinkwart zufolge ergeben, dass es von einer möglichen Entscheidung an anderthalb Jahre dauern könnte, bis Atomkraftwerke in Deutschland wirklich wieder Strom erzeugen könnten. Konkret würde dies bedeuten, dass die drei letzten Atommeiler Deutschlands Ende dieses Jahres vom Netz gehen würden - um dann frühestens im Winter 2023/2024 wieder zur Verfügung zu stehen.

Für die Energieversorger kommt die Debatte über den Atomausstieg zu spät

Bereits zuvor hatten die Betreiberfirmen Eon, RWE und EnBW betont, dass die Debatte über einen Atomausstieg zu spät komme. Rein technisch wäre es auf die Schnelle schwierig, passende Brennstäbe zu beschaffen, um Kernkraftwerke doch noch länger betreiben zu können. Auch das nötige Fachpersonal drohe auszugehen.

Pinkwart mahnt zudem, dass der Bund überprüfen sollte, ob er an allen Details des im Sommer 2020 vereinbarten Kohleausstiegs in Deutschland festhalten sollte. Beispielsweise verweist der NRW-Minister auf mehrere Braunkohle-Kraftwerksblöcke des Betreibers RWE im Rheinland, die im Laufe dieses Jahres stillgelegt werden sollen. Deutschland hatte beschlossen, die klimaschädliche Kohleverstromung schrittweise bis spätestens 2038 zu beenden. Die neue Bundesregierung will diesen Ausstieg "idealerweise" auf 2030 vorziehen, so hieß es zumindest vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine.

Deutschlands größter Braunkohleverstromer RWE prüft nach eigenem Bekunden bereits, ob er Kraftwerksblöcke reaktivieren oder geplante Stilllegungen verschieben könnte. Man wolle handlungsfähig sein, "wenn die Bundesregierung derartige Maßnahmen für notwendig erachtet", teilt ein Sprecher mit.

Pinkwart wie auch RWE betonen gleichwohl, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien im Vordergrund stehe. Denn Wind- und Sonnenstrom verringert die Abhängigkeit von fossilen Importen. Auch der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Thomas Kutschaty entgegnet am Montag: Entscheidend sei, dass Deutschland insgesamt unabhängiger von Energie-Importen werde. Das werde nur mit erneuerbaren Energien gelingen. "Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und sagen, dann machen wir länger Kohleverstromung", so der Chef der SPD in Nordrhein-Westfalen. "Das kann nicht die Lösung sein." Stattdessen habe auch die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW den Ausbau der Windenergie zu lange behindert, etwa mit Abstandsregeln von Windrädern zu Wohnsiedlungen.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) mahnt ebenfalls, dass Deutschland in der Energieversorgung unabhängiger werden und seinen "Ressourcenhunger" senken sollte. "Fossile Energien oder gar Atomkraft sind hier nicht die richtigen Antworten", sagt BUND-Chefin Antje von Broock.

Deutschland hat im vergangenen Jahr knapp 41 Prozent seines Stroms aus erneuerbaren Quellen erzeugt, Gaskraftwerke machten gut 15 Prozent aus. Allerdings gingen bislang alle Beteiligten davon aus, dass Gaskraftwerke zunächst an Bedeutung gewinnen dürften, wenn der Kohle- und Atomausstieg wie geplant voranschreitet. Doch die Republik benötigt Gas nicht nur für die Stromerzeugung, sondern auch für viele Heizungen und Industrieprozesse.

Bislang stammen die Gas-Einfuhren Deutschlands zu gut der Hälfte aus Russland. Zwar hat die Bundesregierung am Sonntag angekündigt, dass Deutschland zwei Terminals für Flüssiggas-Einfuhren (LNG) an der Nordsee bauen will, um unabhängiger von Russland zu werden. Doch könne ein solcher Neubau "bis zu fünf Jahre dauern", mahnt Pinkwart.

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