Energiedebatte:Der nackte Kaiser

Energiedebatte: Dr. Georg Müller, 55, ist seit 2009 Vorsitzender des Vorstands der MVV Energie AG, Mannheim. Zuvor war der promovierte Jurist in unterschiedlichen führenden Funktionen bei dem Essener Energiekonzern RWE tätig.

Dr. Georg Müller, 55, ist seit 2009 Vorsitzender des Vorstands der MVV Energie AG, Mannheim. Zuvor war der promovierte Jurist in unterschiedlichen führenden Funktionen bei dem Essener Energiekonzern RWE tätig.

(Foto: privat)

Der Chef der MVV Energie AG aus Mannheim fordert: Deutschland muss beim Klimaschutz vorangehen. Ein Gastbeitrag von Georg Müller.

Des Kaisers neue Kleider? Oder sind's doch die alten?", fragt man sich nach der Lektüre des Forumbeitrags der deutschen Spitzenökonomen Christoph Schmidt und Axel Ockenfels in dieser Zeitung vom 06.08.2018. Ein deutscher Alleingang beim Ausstieg aus der Kohleverstromung sei kontraproduktiv für den Klimaschutz, lautet ihre These.

Sie stützen sich darauf, dass Klimawandel ein globales Problem ist, das durch einen "international koordinierten CO₂-Preis" gelöst werden kann. Dies scheint so bestechend wie simpel: CO₂-Emittenten werden weltweit mit einem einheitlichen CO₂-Preis belastet. Den Rest erledigen die Marktkräfte. Sie reduzieren die Emissionen effektiv und kosteneffizient, vermeiden Verlagerungseffekte und schließen Wettbewerbsnachteile aus. Die Einnahmen daraus könnte man "gleichmäßig an alle Menschen zurückgeben".

Die Quadratur des Kreises also. Als Appell der Wissenschaft an die weltweite Politik ist dagegen nichts, als Maxime für konkretes Handeln dagegen einiges einzuwenden. Es greift viel zu kurz, bei dieser einseitig ökonomischen Position stehen zu bleiben. Der deutsche Begriff Realpolitik hat es ebenso wie Energiewende in den internationalen Sprachgebrauch geschafft: maximale Effizienz unter gegebenen Machtverhältnissen und faktischen Restriktionen. Dabei entstehen (leider) fast nie "First-best-Lösungen" wie in einem wirtschaftswissenschaftlichen Modell.

Wie hoch ist die Umsetzungswahrscheinlichkeit eines international einheitlichen CO₂-Preises? In einer Welt, in der unilaterale Maßnahmen in den Vordergrund gerückt werden. In einer Welt, in der der Zugriff auf Primärenergieträger ungleich verteilt ist und in der deshalb national spezifische Erzeugungsstrukturen aufgebaut wurden und werden. In einer Welt mit unterschiedlichen Voraussetzungen für unternehmerischen Erfolg und dadurch entstehende Wohlstandsgewinne.

In einer Welt, in der der größte Emittent aus dem Klimaschutzabkommen ausgetreten ist. Mit einem Europa, in dem es viele Jahre gedauert hat, das aufgrund der Finanzkrise beinahe kollabierte Emissionshandelssystem zu reformieren, weil sich 28 Mitgliedstaaten nicht einigen konnten. Mit einem Deutschland, in dem seit Anfang der 90er-Jahre Bundesregierungen unterschiedlichster Couleur in nüchterner Analyse der Gegebenheiten nationale Klimaschutzziele aufgestellt haben.

Seit dem Westfälischen Frieden ist anerkannt, dass multilaterale Lösungen einseitigen Maßnahmen vorzuziehen sind. Wenn sie denn zustande kommen (können). Wenn diese Alternative nicht zur Verfügung steht, bedarf es anderer Antworten, die natürlich Lenkungswirkungen von Preisen berücksichtigen können.

Ja, eine global abgestimmte Klimapolitik ist wünschenswert. Aber das Klima kann nicht so lange warten, bis die damit verbundenen Wünsche konkret werden und in Erfüllung gehen. Spätestens seit den "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome 1972 gehört es zum Gestaltungsanspruch nationaler, regionaler und lokaler Realpolitik, nicht nur auf Erfolge bei notwendigen, aber zeitraubenden völkerrechtlichen Vereinbarungen zu hoffen, sondern auch selbst zu handeln. Im wohlverstandenen nationalen, regionalen und lokalen Interesse.

Und auch die Unternehmen, die mit zukunftsgewandten Investitionen den Weg in das Energiesystem von morgen beschreiten, brauchen verlässliche Rahmenbedingungen. Werden wir also unserer Verantwortung gerecht und organisieren wir einen geordneten, verantwortbaren Kohleausstieg. Dieser Ausstieg muss flankiert werden durch einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien und ein neues Marktdesign, das eine stärkere Nutzung von erneuerbaren Energien und Abwärme im Wärmesektor ebenso ermöglicht wie technologische Innovationen.

Die deutsche Volkswirtschaft wird nicht doppelt belastet. Ein Wasserbetteffekt - also die Verlagerung der Emissionen ins europäische Ausland - entsteht nicht, weil durch nationale Maßnahmen freigewordene Zertifikate gelöscht werden können. Es ist nicht erforderlich, dass der Staat Zertifikate zurückkauft. Es reicht, wenn er die Menge der von ihm auktionierten Zertifikate reduziert. Angebot und Nachfrage werden dann in gleichem Umfang angepasst, und es kommt zu keiner Verzerrung des Emissionshandelspreises.

Klimaschutz ernst zu nehmen, stützt die Glaubwürdigkeit in internationalen Disputen

Die Schnecke eines global einheitlichen Klimaschutzniveaus ist gerade ein Beispiel dafür, dass und wann rein markt- oder preisorientierte Modelle an ihre Grenzen stoßen - wenn nämlich keine volle Rationalität herrscht, wenn Informationen ungleich verteilt sind, wenn Interessen auseinandergehen, weil Ausgangspunkte unterschiedlich sind, oder weil zeitliche Dimensionen nicht angemessen berücksichtigt werden. Märkte sind nur im Modell vollkommen rational.

In der Realität sind sie das spätestens ab dem Zeitpunkt nicht mehr, in dem Menschen darin vorkommen. Dann braucht es ergänzend zu rein preisbezogenen auch andere Instrumente wie verhandelte Maßnahmen oder dirigistische Eingriffe. Die umso klüger sind, je mehr sie Impulse von Märkten aufgreifen, die sich aber nicht von ihnen allein leiten lassen. Derartige Relativierungen eines unbeschränkten Wirtschaftsliberalismus sind - auch im Sinne eines pluralistischen Ansatzes relevanter Instrumente - in der heutigen Ressourcen- oder Verhaltensökonomie Standard.

Klimaschutz ist ohne Alternative und kostet Geld. Die Frage kann doch dann nur sein, wie sich der Ersatz von fossilen Brennstoffen in der Praxis durch den Aufbau einer "grünen Infrastruktur" möglichst kosteneffizient und ohne gesellschafts- und industriepolitische Verwerfungen gestalten lässt. Es wäre ein - zugegeben ambitionierter - Anspruch, der Deutschland als eine der führenden Industrienationen der Welt gut zu Gesicht stünde, nämlich Vorreiter für nachhaltiges Wirtschaften und Leben zu sein.

Klimaschutz nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ernst zu nehmen, ist deshalb nicht kontraproduktiv. Es stützt vielmehr unsere Glaubwürdigkeit in den internationalen Disputen. Es steigert den Druck auf jene, die sich noch oder weiter verweigern und erhöht damit die Chancen, langfristig doch ein multilaterales, effizientes CO₂-Regime zu realisieren. Diese realpolitische Chance sollten wir im Interesse des Klimaschutzes und des Standorts Deutschland beherzt ergreifen.

Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet daher, dass es nicht um neue oder alte Kleider geht. Dieser Kaiser hat nichts an. Er ist nackt.

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