Es sind zwei Schiffe, die Graciosa in Bewegung halten, ein kleines und ein großes. Das große taucht alle paar Wochen am Horizont auf, es ist der Öltanker vom Festland. Das kleine ist das Insel-Tankschiff, das den Tanker anzapft. Der ist nämlich zu groß für den Hafen der kleinen Azoreninsel. So läuft das seit Jahrzehnten: ohne Tanker kein Öl, ohne Öl kein Strom. Denn in Graciosa, 1300 Kilometer vom Festland mitten im Atlantik gelegen, läuft ohne Dieselgeneratoren nichts. Noch.
Diese Woche war Alex Voigt dort, zur feierlichen Vertragsunterzeichnung. Voigt soll die saftig-grüne Insel noch viel grüner machen - mit Saft aus Windrädern und Solarmodulen. Ein komplett neues Stromsystem soll Voigts Berliner Start-up Younicos in Graciosa bis zum Jahr 2014 installieren, mit bis zu 100 Prozent erneuerbaren Energien. Gelingt dies, wäre es das erste geschlossene Ökostrom-System weltweit. "Und auf jeden Fall ist es das erste System, wo erneuerbare Energien nicht eine hübsche Ergänzung sind, sondern der Kern des Systems", schwärmt Voigt.
Zwar gibt es schon eine ganze Reihe von Orten und Inseln, die genügend Ökostrom erzeugen, um sich selbst zu versorgen. Aber nirgends gibt es bislang ein System, das völlig unabhängig funktioniert, also nicht noch an ein Stromnetz angeschlossen ist.
Und das funktioniert auf der Insel so: Wenn der Wind weht (das macht er auf Graciosa häufig) oder die Wolken die Sonne freigeben (was nicht ganz so oft passiert), versorgt der Ökostrom Haushalte und Betriebe. Gibt es mehr davon als nötig, füllt er eine der größten Batterien der Welt, ungefähr von den Ausmaßen zweier aufeinandergestapelter Garagen. Reicht dieser Puffer nicht aus, stehen zur Not noch die alten Dieselgeneratoren bereit, die sich allerdings auch mit Biomasse betreiben ließen. Zunächst ist ein Öko-Anteil von 70 Prozent angepeilt. "Graciosa wird zeigen, dass es möglich ist", sagt Duarte Ponte, Chef des regionalen Energieversorgers EDA. Energiewende auf portugiesisch. Nimmt der Generator dann noch Biodiesel, werden aus den 70 schnell 100 Prozent.
Auch die Leute von Younicos (Slogan: "Let the fossils rest in peace") haben an dem Erfolg keinen Zweifel, viel schiefgehen kann nicht mehr. Denn Graciosa gibt es schon, in klein, in einer mit Glas verkleideten Halle im Tüftlerpark Adlershof im Osten Berlins. Dort hatte Voigts Team schon 2009 die "Energieautonome Republik Younicos" ausgerufen, mit einem Modell des Inselprojekts im Maßstab 1:3.
In der Halle experimentierten sie, wie sich aus Wind und Sonne ein verlässliches System aufbauen lässt, das auch dann noch schwankungsfrei Strom liefert, wenn plötzlich eine Wolke den Himmel verdüstert. Schließlich muss dann sekundenschnell der Riesenakku einspringen, damit auf Graciosa nicht die Lichter ausgehen. Auch eine Molkerei auf der grünen Insel will verlässlich mit Strom versorgt werden. Eine Software muss dazu hinter den Kulissen stetig regeln, woher der Strom kommt und wohin er fließt; sie berücksichtigt das Wetter ebenso wie die Nachfrage auf der Insel. Zumindest in Adlershof gelang das. "Manche würden vielleicht sagen, Graciosa ist ein Pilotprojekt", sagt Voigt. "In Wirklichkeit ist es der erste kommerzielle Einsatz."
Etwa 25 Millionen Euro will Younicos in die neue Infrastruktur für das 4800-Seelen-Eiland stecken; auch Klaus Tschira, Mitgründer von SAP, und der Wella-Erbe Immo Ströher haben in das Unternehmen investiert. Rechnen soll sich die Umstellung der Stromversorgung allein durch den eingesparten Diesel. Mit der EDA hat Younicos einen festen Stromverkaufsvertrag geschlossen, die Entlohnung für den Strom lehnt sich an den Dieselpreis an. Damit lohnt sich die Umrüstung je mehr, desto stärker der Ölpreis steigt. In den 20 Jahren, die der Vertrag nun laufen soll, könnte der Stromversorger so etwa 1,5 Millionen Euro Kosten für Öl sparen - je nach Ölpreis. "Der Erfolg dieses Projekts", sagt EDA-Chef Ponte, "wird ein Meilenstein für den Einsatz erneuerbarer Energien auf den Azoren und in allen entlegenen Regionen der Welt."
Inseln, die mangels Kabel zum Festland auf Dieselgeneratoren setzen, gibt es jedenfalls zur Genüge und das nicht nur im Atlantik. Mal in der Ägäis, mal in der Karibik: Allein 20 vergleichbare Projekte hat Younicos nach eigenen Angaben derzeit in Planung, das größte davon auf einer Insel mit 300 000 Einwohnern. Der größte Kostenblock dabei sind derzeit die Batterien. Sinkt deren Preis, werden auch größere Projekte wirtschaftlich.
Und dann braucht es stets eine Mischung aus Sonne und ausreichend Wind. "Natürlich fängt man so etwas in einer überschaubaren Größenordnung an", sagt Voigt, der schon seit den achtziger Jahren mit Solarenergie experimentiert, in den späten Neunzigern schließlich den Solarkonzern Solon mitgründete. "Und genau das ist Graciosa."
Theoretisch lasse sich das Konzept aber auf beliebig große Systeme anwenden - und letztlich vereint die Azoreninsel im Kleinen das, was auch der deutschen Energiewende zum Erfolg verhelfen soll: die Kombination von Öko-Energien mit riesenhaften Energiespeichern und einer intelligenten Steuerung. Mit konventionellen Kraftwerken schließlich, die nur noch einspringen, wenn alles andere nicht reicht. Zumindest die Insel ist schon reif dafür.