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Energie - Dresden:Strukturwandel als Marathon: "Wir stehen ganz am Anfang"

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Dresden (dpa/sn) - Sachsens Regionalentwicklungsminister Thomas Schmidt hat den Strukturwandel in den Braunkohlegebieten mit einem Marathon verglichen. "Und wir stehen ganz am Anfang", sagte der CDU-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. Nun gehe es darum, endlich durchzustarten und mit den ersten Projekten in die Umsetzung zu kommen. Ende Juni hatte sich Sachsen mit dem Bund auf konkrete Strukturwandel-Projekte geeinigt, inzwischen gaben die regionalen Begleitausschüsse die kommunalen Projekte bekannt.

"Es steht viel Geld für den Strukturwandel zur Verfügung, in der Fläche ist aber noch nicht wirklich etwas angekommen." Die Ungeduld in manchen Regionen kann er verstehen - und sogar etwas Positives abgewinnen. "Das bedeutet, dass die Menschen anpacken und die Zukunft in den Revieren gestalten wollen." Der Politiker verwies auf den erst Ende Mai beschlossenen Haushalt. Dieser sei für die Strukturwandel-Projekte wichtig, um die Kofinanzierung sicherzustellen. "Von außen betrachtet mag das alles langsam wirken, aber hinter den Kulissen wurde Unglaubliches geleistet." Zugleich zeigte er sich optimistisch, dass bald etwas vor Ort passiere. "Es geht jetzt los, es wird sichtbar."

Um nach dem Kohle-Aus neue Jobs in der Lausitz und in Mitteldeutschland zu schaffen, sind mehrere Großprojekte geplant: Unter anderem sollen zwei Großforschungszentren gegründet werden - jeweils eines in den Revieren. Viel wird auch in die Infrastruktur investiert - etwa in eine Schnellbahnstrecke zwischen Berlin-Cottbus-Weißwasser-Görlitz oder die Fertigstellung der Bundesstraße 178 und der Autobahn 72. Auch die Ansiedlung von Bundesbehörden steht auf dem Plan und wurde teils bereits begonnen - etwa im ostsächsischen Weißwasser.

Schmidt sieht für die Bewältigung des Strukturwandels auch das Thema Recycling und Kreislaufwirtschaft als zentralen Punkt - etwa das in Boxberg geplante Forschungszentrum für die umweltfreundliche Produktion von Kohlefasern (InnoCarbEnergy). Statt auf Kohle soll es künftig um innovative Leichtbau-Technologien für die Autoindustrie, den Schiffsbau oder die Luft- und Raumfahrt gehen. Das gebe es in Europa bisher nicht. "Das sind Projekte, die mir ganz besonders am Herzen liegen und wo ich glaube, dass daraus schnell Arbeitsplätze, Wertschöpfung und Wohlstand in der Region entstehen."

Für den Kohleausstieg erhalten die Länder Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt bis zu 40 Milliarden Euro. Auf Sachsen entfallen 25,2 Prozent, also knapp 10,1 Milliarden Euro. Für Projekte im sächsischen Teil der Lausitz sind knapp 6,9 Milliarden Euro vorgesehen, für Vorhaben im Sachsen-Teil des mitteldeutschen Reviers 3,2 Milliarden Euro.

Selbst diese enorme Summe reiche nicht aus, um alle Ideen und Projekte umzusetzen, betonte Schmidt. Er reagierte damit auf deutliche Kritik aus Kohle-Regionen nach dem Aus für so manche Projekte. Regionen wie Weißwasser, Schleife und Trebendorf befürchten, abgehängt zu werden. So werden etwa Projekte wie der Ausbau der gut 200 Kilometer langen Schnellstraße zwischen Leipzig und der Lausitz (Milau), der B2-Tunnel am Agrapark Markleeberg sowie der geplante Ausbau der A4 nicht über die Kohle-Hilfen finanziert. Auch die Elektrifizierung der Bahnstrecke Dresden-Görlitz liegt vorerst auf Eis. Eine Lösung dafür soll über den Bundesverkehrswegeplan gefunden werden.

Während das Geld bei den Bundesprojekten nahezu ausgeschöpft ist und kaum noch Platz für andere Projekte bleibt, gibt es bei dem Budget für kommunale Projekte und Landesprojekte noch Luft - und Raum für Ideen vor Ort. Jedes Jahr gehen im Schnitt 120 Millionen Euro in die Oberlausitz und 54 Millionen Euro in den sächsischen Teil des mitteldeutschen Reviers bis 2038.

Dass die Kommunen über einen Teil der Mittel selbst entscheiden können, sieht Ökonom Joachim Ragnitz vom Dresdner Ifo-Institut als Problem. So würden Projekte realisiert, die zwar einen kurzfristigen Nutzen für die Bevölkerung bringen, "aber für den Strukturwandel selber ziemlich unnütz sind". Schon länger wird etwa über den Neubau von Kitas oder Sportplätzen mit Kohle-Geldern diskutiert. Ragnitz schlägt vor, dass Bund oder Land ein Widerspruchsrecht erhalten oder der von den Kommunen zu leistende Eigenbeitrag angehoben wird. "So, dass man sich zweimal überlegt, wofür man das Geld ausgibt."

In der Lausitz - wo Tausende Arbeitsplätze durch das Kohle-Aus verloren gehen - könnte laut Ragnitz die demografische Entwicklung den Strukturwandel bremsen. "Es werden in den kommenden 20 Jahren Fachkräfte fehlen - und das erschwert die Neuansiedlung von Unternehmen mehr als alles andere." Das betreffe aber auch viele andere Regionen Ostdeutschlands. Ragnitz regte unter anderem an, das Problem etwa durch Anreize für mehr Zuwanderung mit einem eigenen Förderprogramm zu lösen - unabhängig von den Kohle-Hilfen.

Minister Schmidt sieht ein Umdenken durch die Corona-Pandemie und die Möglichkeit von Home-Office. "Wer über Wochen zu Hause gearbeitet hat mit zwei Kindern in einer Wohnung ohne Balkon und für die Hälfte der Miete auch in eine größere, schönere Wohnung auf dem Land ziehen könnte, der denkt wahrscheinlich schon um." Darin liege auch eine Chance. "Vielleicht kommen auch Leute zurück oder ziehen in die Oberlausitz", hofft der Politiker. In den vergangenen 30 Jahren sei bereits aus einer kaputten Tagebaulandschaft eine "traumhaft schöne Gegend" mit Seen, florierenden Wirtschaftsgebieten und guter Verkehrsanbindung in die Großstädte geworden.

© dpa-infocom, dpa:210726-99-530008/4

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