Ein Jahr noch maximal, dann war's das mit der Webseite, sagt das Management von Flipkart. Eine Webseite brauche man dann einfach nicht mehr. Das ist insofern überraschend, als Flipkart das indische Pendant zu Amazon ist, ein Laden, der übers Internet alles mögliche verkauft. Und übers Internet heißt in diesem Fall: über die Webseite. Aber warum soll diese dann abgeschafft werden?
In der Times of India erklärt ein Manager der Firma, dass sich innerhalb von 18 Monaten die Zahl der Nutzer, die die Flipkart-Seite mit einem Handy besuchen, verzehnfacht habe. Und dieser Wandel hält offenbar ungebrochen an.
In Indien werden in drei Jahren 580 Millionen Menschen im Netz unterwegs sein, so die Berechnungen von Boston Consulting. Bis zu 80 Prozent von ihnen werden dazu vor allem Handys verwenden. Deshalb glaubt Flipkart, dass es eine gute Idee sei, die eigene Webseite durch Apps zu ersetzen. Apps für Apple-Handys, Apps für Microsoft-Handys und Apps für Android-Geräte. Auch Europäer und Amerikaner ersetzen immer öfter ihren Computer durch ihr Handy.
Wenn Facebook "das Internet" darstellt
So zeigt sich erst nach und nach, was Menschen alles mit einem kleinen Bildschirm und gerne auch unterwegs erledigen. Einkaufen gehört offenbar dazu. Der Trend befeuert den langsamen Abschied von Homepages und Webseiten, der sich global mal stärker und mal schwächer abzeichnet. Im September 2014 durchbrach die Anzahl von Internetadressen im Netz (hinter denen sich in aller Regel Webseiten verbergen) die Milliarden-Schwelle, allerdings fiel die Anzahl zwischenzeitlich wieder um ein paar Millionen. Doch selbst wenn die Grenze erneut durchbrochen wird und das Wachstum weitergeht, zeichnet sich ein Relevanzverlust ab für die Webseite, wie man sie heute kennt.
Neben dem Aufstieg der Apps, der sich an Flipkarts Entscheidung illustrieren lässt, tragen auch die Inhalte-Darstellungen der großen Social-Media-Seiten dazu bei. Facebook ist für sehr viele Menschen die wichtigste Internetseite geworden, und der Konzern tut alles dafür, dass weniger versierte Menschen Facebook für "das Internet" halten.
Millionen private Homepagebetreiber, Blogger, aber auch Firmen mit eigener Webseite sind nun mit ihrer digitalen Präsenz zu Facebook gewechselt. Die Vorteile sind offensichtlich: Wer sich bei Facebook präsentiert, bekommt Freunde, Nutzer, potenzielle Käufer vorgeschlagen.
Marketing-Möglichkeiten wie Werbung oder die gezielte Ansprache von Nutzern werden von Facebook bereitgestellt und sind einfach zu benutzen. Menschenmassen lassen sich problemlos organisieren und nach ihren Interessen ordnen, neue Freunde werden den Nutzern präsentiert, sie müssen nicht mehr selber danach suchen. Das war nämlich der ehemalige Zustand: verstreute Seitenbetreiber, die heute so obskur wirkenden Dienste wie myspace oder geocities - einen Anbieter für private Webseiten - nutzten, um sich im Netz zu präsentieren. Die waren nicht zweckmäßig zu bedienen und in ihrem Funktionsumfang stark eingeschränkt.
So unterschiedlich die Beweggründe der Nutzer sein mögen, hin zu den großen Playern des Netzes zu wechseln, in die App-Welt von Apple und Google oder in die sozial-virale Facebook-, Twitter- und Pinterest-Welt, so eindeutig und einheitlich ist der Effekt dieser Handlungen für die Netzstruktur.
Es gewinnen die mächtigen Konzerne, es verliert das autonome, wirre und wilde Netz, das einst "das Internet" war. Der Widerstand vereinzelter Administratoren, die an ihrer kleinen Webseite festhalten, wird spätestens dann wirkungslos, wenn sich kein Publikum mehr findet, das diesen Protest bemerkt, weil es stattdessen lieber auf Facebook unterwegs ist.
Zumal die großen Anbieter ergänzt werden von Services, die ebenfalls die Funktionen klassischer Webseiten übernehmen, wie etwa Karrierenetzwerke.
Unter diesem Druck ändert sich die Struktur des gesamten Netzes. Es spaltet sich tendenziell auf in einzelne, miteinander verbundene Supernetze wie jenes von Facebook und jenes von Twitter, wie jenes von Google und jenes von Apple. Das bedeutet auch, dass die Macht dieser Konzerne wächst, und zwar nicht nur in Bezug auf wirtschaftliche Macht, sondern auch in Bezug auf inhaltliche und gesellschaftliche Macht. Jeder einzelne von ihnen bestimmt alleine darüber, was in seinem Herrschaftsbereich erlaubt ist, welche Funktionen zur Verfügung stehen.
Freiheit gegen Effizienz
Die Räume, über die sie Macht ausüben sind de jure privat, tatsächlich aber sind sie ein Teil der Öffentlichkeit, sie sind die Orte, an denen sich Bürger austauschen, informieren und organisieren. Dass sie das einfacher können als je zuvor, ist ihr Glück. Dass sie dabei eingeschränkter agieren als je zuvor, ist ihr Pech. Sie tauschen größtmögliche Freiheit gegen mehr Effizienz ein. Dabei nicht klar, ob sie mehr oder weniger Möglichkeiten erhalten.
Eine eigene Webseite bedeutet Freiheit, aber nur, wenn man fähig ist, sie zu unterhalten. Umgekehrt sind die Supernetzwerke zwar eine übergeordnete inhaltliche Instanz, aber gleichzeitig viel einfacher zu bedienen. Das alte Versprechen, wonach jeder im Netz eine Stimme hat, hält Twitter stärker ein, als es die nie gefundenen Seiten der Neunziger Jahre je konnten.
Die Struktur des Netzes ändert sich nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf technischer Ebene. Die Supernetze sind, anders als zum Beispiel die Verbindungen zwischen Bloggern per Link, die ja vor allem virtuell existiert, wesentlich mehr verbunden, ganz handfest mit Kabeln und Schränken, in denen Computer stehen. Denn einzelne Webseiten wie die eines unabhängigen Bloggers, werden auf Speicherplatz installiert, den der Endkunde bei Firmen anmietet, die Server betreiben. Ihre Dienstleistung beschränkt sich auf das Angebot von Speicherplatz.
Was ihre Mieter auf den Servern speichern, ist diesen Firmen in aller Regel egal. (Ausgenommen sind Fälle, in denen strafrechtlich Verbotenes auf den Großrechnern abgelegt wird.)
Demgegenüber stehen die ständig wachsenden Großrechnerfarmen von Google und Facebook. Sie werden gerne dort gebaut, wo es kalt ist, zum Beispiel in Finnland, denn das spart Kühltechnik an den ständig heiß laufenden Maschinen. Google bietet einen durchaus beeindruckende Übersicht auf der eigenen Webseite über diese Rechenzentren, die Überschrift lautet: "Wo das Internet lebt." Nun ist es nicht so, dass die Computerfarmen der Großanbieter die Rechenzentren der kleineren Dienstleister verdrängen würden. Das liegt aber vor allem daran, dass der Bedarf an Speicherplatz ohnehin wächst.
Niemand weiß, wie das Netz in 20 Jahren aussehen wird. Sicher ist lediglich, dass die sinkende Relevanz von Webseiten nur eine Tendenz in einem viel größeren Wandel ist. Wird es noch Internetadressen geben oder nur noch die Logos verschiedener Apps? Wird es noch Toplevel-Domains wie ".de", ".org" und ".com" geben oder wird das Navigieren im und die Verbindung zum Netz mit neuen Geräten viel einfacher, intuitiver und unmittelbarer werden? Dafür spricht, dass Internetadressen umso mehr Sinn ergeben, je mehr Webseiten es gibt. Schrumpft deren Relevanz, schrumpft auch die der Internetadressen.
Dafür spricht aber auch, dass die Hardware, welche die Nutzer verwenden, immer näher an den Körper rückt - Uhren, Brillen, Kontaktlinsen - und dass Geräte, die nur wenige Funktion haben, derzeit vom Markt verschwinden. Ein aktuelles Gerät muss Zugang in all die abgeschlossenen Welten bieten, die sich zum Teil überdecken. Facebook, das große Netz der Inhalte, ist auf dem Handy eine App. Und auch die Tatsache spricht für diesen Wandel, dass Technologien, die heute längst Geschichte sind, einst zu Standards des Internets erklärt worden sind, die mit Gewissheit für Dekaden erhalten bleiben würden.