Die beiden Fahnder klingen besorgt. Nichts von alledem dürfe nach außen dringen, schärfen sie ihrem Gegenüber ein. Die Gespräche müssten "in Abstimmung mit dem Staatsanwalt absolut vertraulich geführt werden, da es sich um einen hochsensiblen Bereich handelt". Man sei da nämlich auf etwas gestoßen bei einem "Einsatz im EnBW-Konzern."
Dass Deutschlands drittgrößter Energieversorger Ärger mit Staatsanwaltschaft und Steuerfahndern hat, ist bekannt. Die Ermittlungen drehen sich um dubiose Russland-Geschäfte mit dem Moskauer Lobbyisten Andrej Bykow, den Verdacht schwarzer Kassen und dunkler Geschäfte im Emissionshandel. Der Vorgang aber, bei dem zwei Steuerfahnder aus Karlsruhe am 14. März 2012 ihren Gesprächspartner vom Zentralen Konzernprüfungsamt Stuttgart zur Verschwiegenheit verdonnerten, könnte noch viel weitreichender sein.
Es geht um Umsatzsteuerbetrug im großen Stil bei Stromgeschäften, nicht nur bei EnBW. Schlimmstenfalls haben Betrüger den Fiskus um zig Milliarden Euro geprellt. Finanzbehörden in Baden-Württemberg hegen bereits seit 2010 den Verdacht, dass EnBW in illegale Karussellgeschäfte verwickelt sein könnte. Sie seien dort "auf strafrechtlich relevante Sachverhalte gestoßen", teilten Steuerprüfer dem Stuttgarter Konzernprüfungsamt mit. Dies geht aus einer internen Aktennotiz hervor, die der Süddeutschen Zeitung ebenso wie viele andere vertrauliche Papiere vorliegt. Ein EnBW-Sprecher sagte, der Konzern wisse von den Aktivitäten der Behörden nichts.
Kriminelle Händler entern deutschen Strommarkt
Es spricht einiges dafür, dass EnBW kein Einzelfall ist. Fahnder in ganz Europa haben nach Informationen aus Ermittlerkreisen Netze von Betrügern im Visier, die Staaten um viele Milliarden Euro gebracht haben könnten. Die europäische Polizeibehörde Europol in Den Haag spricht von Fällen "historischer Dimension". In Deutschland ermitteln mehrere Behörden.
Nach Einschätzung von Ermittlern haben kriminelle Händler den deutschen Strommarkt geentert. Die Masche funktioniert fast immer nach dem gleichen Schema: Firmen handeln untereinander über Grenzen hinweg mit Strom. Ein Unternehmen verkauft ihn nach Deutschland - steuerfrei.
Beim Weiterverkauf würden eigentlich 19 Prozent Umsatzsteuer fällig. Die Betrüger zahlen nicht, reichen den Strom wie in einem Karussell unter gut verschleierten Firmen so lange weiter, bis sich die Spur verliert. Am Ende wird der Strom wieder ins Ausland exportiert. Der letzte Verkäufer lässt sich die nie gezahlte Steuer vom deutschen Fiskus zurückerstatten, weil der Handel innerhalb der EU nicht besteuert werden soll.
Das Betrugsschema ist bekannt
Dieses Betrugsschema kennen die Ermittler aus dem Handel mit CO₂-Emissionszertifikaten. Allein zwischen 2008 und 2010 haben Kriminelle nach Angaben von Europol hier Steuerschäden von fünf Milliarden Euro in Europa angerichtet. Die tatsächliche Summe dürfte sogar "ein Mehrfaches höher liegen", glauben Experten des Bonner Bundeszentralamtes für Steuern, das dem Bundesfinanzministerium unterstellt ist. Ein Fall mündete in einen spektakulären Betrugsprozess vor dem Frankfurter Landgericht. Wegen der Hinterziehung von insgesamt 260 Millionen Euro wurden die Angeklagten zu Haftstrafen verurteilt.
So spektakulär die Dimension beim Steuerbetrug im Emissionshandel war - sie wirkt klein im Vergleich zum neuen Spielfeld der Kriminellen. Der potenzielle Schaden bei Stromgeschäften ist viel umfangreicher, allein weil der Strommarkt viel größer ist - und weitaus anfälliger. Während das Volumen des Emissionshandels in Europa auf 100 Milliarden Euro taxiert wird, sind es im Strom- und Gashandel rund 900 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Emissionshandel sei das Betrügen viel leichter, sagen Experten. Der Milliardenmarkt werde kaum überwacht.
In Deutschland haben sich Ermittler gleich in mehreren Bundesländern an verdächtige Strom- und Gashändler geheftet, etwa in Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Baden-Württemberg. Dass es nicht um Lappalien geht, macht schon das Täterprofil klar: "Die Spuren führen ins Milieu der organisierten Kriminalität", verlautet aus Kreisen des Bundeskriminalamtes (BKA). "Die Täter haben Spezialwissen."
Sie hätten ihre Karussellgeschäfte so professionell aufgezogen, dass Ermittlern förmlich schwindelig werde, erzählt ein Fahnder. Man stieß auf Firmen im In- und Ausland, die von Strohleuten geführt werden. Sie sind schwer zu fassen, denn die Megawattstunden werden inzwischen quer durch Europa gehandelt, während die Energie selbst im hiesigen Netz bleibt. Nur mit zeitraubenden Rechtshilfeersuchen lassen sich die Fälle aufklären. "Die Dunkelziffer dürfte gewaltig sein", heißt es in Kreisen der Ermittler weiter.
Der Verdacht, dass der mit 19 Milliarden Euro Umsatz und 20 000 Beschäftigten drittgrößte deutsche Energieriese EnBW - wissentlich oder unwissend - in solche illegalen Geschäfte verwickelt sein könnte, keimte bei Finanzbehörden in anderen Bundesländern auf. Sie gaben ihren Kollegen in Baden-Württemberg einen Tipp. Daraufhin machten sich Steuerfahnder aus Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart über die EnBW-Bücher her und stießen auf Merkwürdigkeiten: "Die steuerfreien Umsätze hatten innerhalb von einem Jahr von zirka einer Milliarde Euro auf zehn Milliarden Euro zugenommen", heißt es baff in einem internen Vermerk vom Februar 2011.
Für EnBW kommt Verdacht zur Unzeit
In einer anderen Aktennotiz rechnete ein Steuerfahnder vor, nach einer ersten überschlägigen Analyse habe EnBW 2010 Strom für 10,3 Milliarden Euro ins Ausland verkauft und zugleich für 9,4 Milliarden Euro importiert. "Des Weiteren wurden 12,3 Milliarden Euro Inlandseinkäufe mit Vorsteuer vorangemeldet", notierte der Beamte. "Bezüglich der Vorsteuern ist zu prüfen, ob und inwieweit diese aus betrugsbehafteten Karussellgeschäften stammen." Experten von Finanzbehörden wurden in Marsch gesetzt. Es kam zu einer Sonderprüfung bei EnBW, über deren Ergebnisse bislang nichts nach außen drang.
Für EnBW kommt der Verdacht zur Unzeit. Der kernenergielastige Konzern leidet unter dem beschleunigten Atomausstieg. Dazu die Bykow-Affäre in ihren zivil- und strafrechtlichen Facetten, bei der es um einen dreistelligen Millionenbetrag geht und wo die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sollte EnBW von einem möglichen Steuerbetrug im Stromhandel profitiert haben, stünden hohe Nachforderungen im Raum.
Verschärftes Steuerrecht erschwert Betrug
Hinweise auf solche Verstrickungen ergaben auch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Mannheim gegen frühere Verantwortliche der insolventen Firma Power+Energy. Sie sollen mithilfe einer norddeutschen und zweier bayerischer Firmen ein kleineres Umsatzsteuerkarussell aufgezogen und den Fiskus binnen vier Monaten um 2,9 Millionen Euro geprellt haben. Aus internen Rechnungen und Lieferscheinen geht hervor, dass EnBW-Gesellschaften mit einer der beteiligten Firmen schwungvollen Stromhandel betrieben. Volumen: mehrere Millionen Euro monatlich.
Seit einigen Wochen gilt ein verschärftes Steuerrecht für den Stromhandel - das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren, welches die Steuerschuld vom Verkäufer auf den Käufer verlagert. Es erschwert zwar den Betrug, löst das grundsätzliche Problem aber nicht. Die Ermittlungen werfen damit auch ein Schlaglicht auf den bislang vergeblichen Kampf gegen Umsatzsteuerbetrüger. Mehrere Finanzminister haben sich abgearbeitet. Inzwischen läuft eine neue Initiative. So spricht sich etwa Nordrhein-Westfalen für einen grundlegenden Systemwechsel bei der Umsatzsteuer aus. Leider folge die EU bisher nur in Trippelschritten, klagt NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans (SPD). Die Betrüger sind da viel schneller.