Geldanlage:So riskant ist es, in einzelne Aktien zu investieren

Geldanlage: Kurstafel des Dax in der Frankfurter Börse: Überraschend viele Anleger in Deutschland, vor allem auch jüngere, investieren in einzelne Aktien.

Kurstafel des Dax in der Frankfurter Börse: Überraschend viele Anleger in Deutschland, vor allem auch jüngere, investieren in einzelne Aktien.

(Foto: Daniel Roland/AFP)

Die Deutschen entdecken die Börse. Viele setzen dabei auf einzelne Aktien wie Apple, Tesla oder Gamestop, deren Kurs stark gestiegen ist. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, warum sie damit große Risiken eingehen.

Von Harald Freiberger,

2020 wird auch als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die Deutschen die Börse entdeckten. Die Zahl derer, die Aktien oder Aktienfonds besitzen, stieg um mehr als ein Fünftel auf 12,35 Millionen. Der Corona-Crash im März und die anschließende schnelle Erholung mit immer neuen Rekorden scheinen etwas bewirkt zu haben, das Anlageexperten lange Zeit vergeblich anmahnten: dass die Bundesbürger stärker an den Kapitalmärkten investieren sollten, vor allem um angesichts der niedrigen Zinsen für das Alter vorzusorgen.

Viele tun das, indem sie in möglichst viele verschiedene Aktien investieren, breit gestreut, regelmäßig und langfristig, zum Beispiel mit Fonds oder einem monatlichen ETF-Sparplan auf den weltweiten Aktienindex MSCI World, der mehr als 1600 einzelne Unternehmen widerspiegelt.

Doch es gibt auch eine andere Art, Geld an der Börse anzulegen, und sie hat eine viel längere Tradition: Man kauft einfach die Aktie eines Unternehmens. Sie schien durch die zunehmende Popularität von ETFs zuletzt etwas in den Hintergrund zu treten. Doch die Zahlen von Direktbanken und Onlinebrokern sagen etwas anderes aus: Viele Deutsche, vor allem jüngere, investieren auch gerne in einzelne Aktien.

Bei der Direktbank Consors verdreifachte sich die Zahl der Aktiensparpläne im Jahr 2020. Die Kunden lassen damit jeden Monat einen Betrag von durchschnittlich 50 Euro in ein einzelnes Unternehmen fließen. Erstmals überstieg die Zahl der Aktiensparpläne bei Consors sogar die Zahl der Fonds- und ETF-Sparpläne. Die beliebtesten Aktien waren US-Technologiekonzerne wie Amazon, Apple, Microsoft und Tesla.

Aus der "Generation Gamestop" könnte eine für die Börse verlorene Generation werden

Die verrückten Vorgänge um die US-Videospielkette Gamestop im Januar haben den Trend zur Einzelaktie noch verstärkt. In den sozialen Netzwerken verabredeten sich Kleinanleger dazu, die Aktie zu kaufen, um Hedgefonds, die dagegen gewettet hatten, eins auszuwischen - mit Erfolg. Der Kurs stieg um mehr als das Zwanzigfache. Auch bei anderen Aktien wie ACM, Nokia oder Varta gab es starke Ausschläge, und deutsche Anleger mischten kräftig dabei mit. Noch im März gehörte Gamestop bei Consors zu den meistgekauften Aktien. Schon ist von der "Generation Gamestop" die Rede.

Fachleute sehen diese Entwicklung nicht ohne Sorge. "Vielen Anlegern ist nicht bewusst, dass von einzelnen Aktien ein viel höheres Verlustrisiko ausgeht als von einem breit anlegenden Fonds oder ETF", sagt Martin Weber, Finanzprofessor an der Universität Mannheim. Sie liefen Gefahr, sich bei einem Einbruch ein blaues Auge zu holen und dann aus Frust der Börse ganz fernzubleiben. Aus der "Generation Gamestop" könnte dann eine für die Börse verlorene Generation werden, so wie es schon Anfang des neuen Jahrtausends war, als die Internet-Blase platzte und damit auch die gerade erst aufkeimende Aktienkultur ein jähes Ende nahm.

FILE PHOTO: FILE PHOTO: A GameStop store is seen in the Jackson Heights neighborhood of New York City

Die Aktie der US-Videospielkette Gamestop spielte im Januar verrückt. Auch viele deutsche Anleger waren dabei.

(Foto: Nick Zieminski/Reuters)

Blickt man auf die derzeit beliebtesten Einzelaktien, fällt eine Gemeinsamkeit auf: Ihr Kurs ist in letzter Zeit extrem gestiegen. Weber, der sich auf Behavioral Finance spezialisiert hat, also auf die Psychologie von Anlegern, erklärt das mit dem Phänomen der "lotterieähnlichen Aktien": Die Menschen liebten es, sich vorzustellen, dass sie einen großen Gewinn machen können, auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür gering sei. Deshalb übe ein steiler Kursanstieg einen solchen Reiz auf Anleger aus.

"Im Kern ist der Mensch ein emotionales Wesen, es fällt ihm schwer, rational zu investieren."

"Die Leute wollen haptisch investieren, sie wollen eine Vorstellung davon haben, was in ihrem Depot liegt, sie wollen den Kurs verfolgen können und freuen sich, wenn er steigt", sagt Weber. Es sei eine emotionale Geschichte. Die Vernunft dagegen sagt, dass es besser ist, die Risiken zu streuen und das eigene Geld auf viele einzelne Unternehmen zu verteilen. "Doch im Kern ist der Mensch ein emotionales Wesen, es fällt ihm schwer, rational zu investieren", sagt Weber. Dabei sind die Fakten eindeutig: Die Volatilität, also die Schwankungsanfälligkeit einzelner Aktien liegt im Durchschnitt deutlich höher als bei Fonds oder ETFs. Weber hält sie alles in allem für "doppelt so riskant".

Hinzu kommt das, was Verhaltenspsychologen den "Rückschau-Bias" nennen, also eine verzerrte Wahrnehmung, die durch den Blick auf die Vergangenheit verursacht wird. Sie äußert sich durch Sätze wie "War ja klar, dass es so gekommen ist": Im Nachhinein wirkt eine Entwicklung oft selbstverständlich oder zwangsläufig, wie sie es vom damaligen Standpunkt aus jedoch keineswegs war. Beim Blick auf einen Aktienkurs tritt dieses Phänomen oft auf. Man hört Leute sagen: "Wenn ich vor so und so vielen Jahren die Apple-Aktie gekauft hätte ..." Der Kurs hat sich mehr als vertausendfacht, seit das Unternehmen 1980 an die Börse ging. In dem Satz steckt, dass man das ja eigentlich hätte wissen können. Doch man wusste es nicht: Es gab damals Hunderte Unternehmen, die das Potenzial von Apple hatten, aber nur eines hat dieses Potenzial ausgeschöpft.

"Man plausibilisiert sich die Vergangenheit zurecht, aber kein Mensch weiß, welches heute kleine Unternehmen in 20 Jahren Weltmarktführer sein wird", sagt der Münchner Fondsmanager Andreas Beck. Er ist nur sicher, dass die heute schon großen Unternehmen in Zukunft nicht mehr so wachsen werden wie in der Vergangenheit. "Wenn eine Aktie stark gestiegen ist, wo soll da noch starkes Wachstum herkommen?" Der Aktienmarkt lebe von der Dynamik junger Unternehmen, wer also jetzt in die Schwergewichte investiere, verzichte auf diese Dynamik.

Bei gehypten Aktien wird der Kurs mehr von der Fantasie getragen als von der Realität

Dies ist ein Argument gegen die Unternehmen, die auch bei deutschen Anlegern im vergangenen Jahr die beliebtesten waren: US-Technologiekonzerne wie Amazon, Apple oder Microsoft, die von der sich beschleunigenden Digitalisierung in der Corona-Krise profitierten. Die Kurse sind schon so hoch, es ist schwer vorstellbar, dass es immer so weitergeht. Andererseits scheffeln diese Konzerne jedes Quartal Milliardengewinne. "Das sind Cash-Maschinen", sagt der Investor und Autor Christian W. Röhl, deshalb hält er die gegenwärtige Situation an der Börse auch nicht für so gefährlich wie vor 20 Jahren, als die Internet-Blase platzte und die meisten Unternehmen am damals noch existenten Neuen Markt oft kein tragfähiges Geschäftsmodell hatten.

Apple unveils AirTag in Cupertino

Der Blootooth-Tracker Airtag, den Apple an diesem Dienstag vorstellte: Der US-Technologiekonzern schrieb eine der größten Erfolgsgeschichten an der Börse in den vergangenen Jahrzehnten.

(Foto: Apple Inc./Reuters)

Auf der anderen Seite gibt es aber auch gehypte Aktien, deren Kurs mehr von Fantasie getragen wird als von der Realität. Dazu zählen viele E-Auto-Aktien, Wasserstoff-Unternehmen wie NEL und Plug Power oder eben Gamestop. "Bei solchen Werten wäre ich vorsichtig, sie sind riskant, Anleger sollten sie auf keinen Fall als Basis-Investment an der Börse betrachten", sagt Röhl. Wie hoch die Risiken sind, zeigt der Fall Wirecard. Der Zahlungsdienstleister gehörte 2020 ebenfalls zu den Favoriten der Anleger - bis er im Juni wegen Insolvenz anmelden musste. Die Aktie ist heute 35 Cent wert - auf dem Höhepunkt im Jahr 2018 waren es knapp 200 Euro.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie riskant es ist, an der Börse Modetrends mitzumachen. Niklas Reinhardt, Doktorand in Behavioral Finance an der Universität Kiel, analysiert gemeinsam mit dem Mannheimer Professor Weber einen wertvollen Datensatz: die Depots von 40 000 anonymisierten Kunden einer deutschen Direktbank zurück bis ins Jahr 2007. Für die SZ hat er ausgewertet, auf welche Aktien deutsche Anleger zum 31. Januar 2007, also vor 14 Jahren setzten. Die Favoriten in den Depots waren ein Spiegel des Deutschen Aktienindex (Dax): Siemens, Telekom, Daimler, Eon, Allianz.

Die Apple-Aktie belegte damals Rang 66. Sie lag mit einem Wert von 835 000 Euro in 118 der 40 000 Depots. Zum Vergleich: Beim Spitzenreiter Siemens waren es 19,3 Millionen Euro in 1695 Depots. So viel zum Thema Rückschau-Bias und "Hätte ich damals Apple gekauft".

Früher gehörten deutsche Solar-Unternehmen zu den Modeaktien, jetzt sind viele pleite

Interessant ist auch, welche Aktien in den Depots damals übergewichtet waren, auf welche die Kunden also stärker setzten, als es deren Wert an der Börse entsprach (siehe Tabelle). Es waren sozusagen die Modeaktien der Deutschen. Mit Solarworld, Q-Cells und Conergy standen gleich drei Unternehmen aus der Solar-Branche unter den ersten zehn. Alle drei gingen später pleite, weil die Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu hart wurde. Generell entwickelten sich die zehn Trendaktien weit unterdurchschnittlich: Die jährliche Rendite von 2007 bis 2021 lag im Durchschnitt bei minus 2,3 Prozent - während der Dax im selben Zeitraum jährlich um fünf Prozent zulegte.

"Man sieht, dass 2007 Solarunternehmen bei Privatanlegern in Mode waren", sagt Forscher Reinhardt. Heute wisse man, dass vieler dieser Unternehmen Insolvenz anmelden mussten. Wenn man dachte, dass erneuerbare Energien die Zukunft seien, hatte man damit zwar offensichtlich recht. "Aber auf die Idee sind auch andere Anleger schon gekommen, weshalb der Preis diese Idee bereits reflektierte", sagt Reinhardt.

Es ist eine grundlegende Tatsache bei der Preisbildung an der Börse: Der aktuelle Aktienkurs spiegelt stets die gegenwärtigen Einschätzungen und die Zukunftshoffnungen aller Investoren wider. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass der Kurs eines Unternehmens steigt, ist genauso groß wie die, dass er sinkt. Auch deshalb ist es so schwer, das Apple der Zukunft zu finden. Gleichzeitig aber weiß man, dass alle Aktien zusammen auf lange Sicht jedes Jahr um sechs bis acht Prozent steigen, weil sie in der Summe das Wachstum der weltweiten Wirtschaft reflektieren. Gerade deshalb raten Experten Anlegern, breit diversifiziert in Aktien zu investieren.

Wenn der Bauchladen zum Schrotthaufen wird

"Natürlich kann man auch mit einzelnen Aktien ein gut ausbalanciertes Depot bestücken", sagt Investor Röhl. Das erfordere aber viel Arbeit: Man müsse die Geschäftsmodelle der Unternehmen gut kennen und aufpassen, dass man kein Klumpenrisiko eingeht. Wer die Börse als sein Hobby betrachte, könne das tun. Röhl gibt häufig Kurse für Börseninteressierte. Er habe schon gute Depots gesehen, die aus 20 einzelnen Aktien bestehen, es komme aber auch vor, dass Anleger mit 50 einzelnen Aktien hochriskante Strategien fahren. "Viele hören auf Tipps und rennen Trends hinterher, irgendwann haben sie einen Bauchladen, und das ist die Vorstufe zum Schrotthaufen", sagt Röhl.

Auto Shanghai show in Shanghai

Tesla-Stand auf der Automesse in Shanghai: E-Auto-Aktien boomen, die hohen Kurse basieren zu einem guten Teil auf Zukunftshoffnungen.

(Foto: Aly Song/Reuters)

Wie aber lässt sich das Dilemma lösen? Offensichtlich gibt es bei der Geldanlage an der Börse einen Konflikt zwischen Vernunft und Gefühl: Der Verstand sagt, dass man möglichst breit gestreut investieren sollte, die Emotion liebt den Kitzel der Anlage in ein einzelnes Unternehmen.

Röhl rät Einsteigern grundsätzlich, mit dem größten Teil des eigenen Geldes breit gestreut über Fonds oder ETFs an der Börse zu investieren. Um dem Bedürfnis nach Kitzel nachzugeben, könnten Anleger einen kleinen Teil ihres Geldes auch in eine einzelne Aktie stecken. "Das kann ein Unternehmen aus der eigenen Umgebung sein oder eines, das man einfach gut findet", sagt Röhl. Auf diese Weise lerne jeder Anleger, was es bedeute, Aktionär zu sein - mit der Möglichkeit, an einer Hauptversammlung teilzunehmen und zu sehen, wie Nachrichten den Kurs beeinflussen. Auch Fondsmanager Beck findet diese Idee gut: "Die Emotionen bei Gewinn und Verlust sind bei kleinen Beträgen dieselben wie bei großen."

Professor Weber weist auf eine Strategie hin, die es schon seit Jahrzehnten gibt: die Core-Satellite-Mischung. Demnach sollte der Kern des Börseninvestments breit gestreut sein, dazu könne man in einige einzelne Aktien, die einen besonders reizen, als Satelliten investieren. Das Verhältnis sollte aber stimmen: mindestens 90 Prozent des Geldes breit gestreut, maximal zehn Prozent in einzelnen Aktien.

"In den sozialen Medien sind viele unterwegs, die von Risiken reden, aber diese noch nie erfahren haben."

Weber hatte nach dem Platzen der Internet-Blase von 2000 bis 2003 schon die Depots der Deutschen untersucht und festgestellt, dass die meisten viel zu wenig diversifiziert waren. Zu viele setzten auf wenige einzelne Aktien, überwiegend auch aus dem boomenden Technologie-Bereich, der danach umso tiefer abstürzte. Es sind gerade die spekulativen Trendaktien, die in einer Baisse besonders tief fallen.

Röhl erinnert sich noch gut an die Zeit, als die Kurse über drei Jahre einbrachen, am Ende stand der Dax 70 Prozent tiefer. "Das war der ultimative Test für die eigene Risikotragfähigkeit", sagt er, am Ende waren die Anleger demoralisiert. Die Gefahr heute sei gerade für junge Anleger, dass die Aktienkurse seit mehr als zehn Jahren im Grunde immer gestiegen sind. "In den sozialen Medien sind viele unterwegs, die von Risiken reden, aber diese noch nie erfahren haben", sagt Röhl. Schwimmen lerne man nicht in einer trockenen Badewanne. Man müsse immer mit einem länger anhaltenden Abschwung rechnen.

Zum Schluss nachgefragt bei Jens Ehrhardt, dem großen alten Mann der Börse. Er gründete vor Jahrzehnten seine eigene Fondsgesellschaft, heute ist er 79 Jahre alt und immer noch aktiv. "Ich brauche keinen Ruhestand, die Börse ist mein Leben", sagt er. Seine Art zu investieren hat sich sehr verändert. "Früher bestand mein Depot ausschließlich aus Einzelaktien, heute mache ich alles über Fonds", sagt er. Es sei einfacher, man müsse sich nicht so viele Gedanken machen, und man gehe weniger Risiken ein. Ehrhardt zieht den Vergleich mit Standbein und Spielbein: "Wer an der Börse investiert, sollte auf dem festen Fundament vieler verschiedener Aktien stehen - mit einzelnen Aktien sollte man nur spielen."

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