Einwanderung:Willkommen in der Wirklichkeit

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Eine Lehre setzt ausreichende Sprachkenntnisse voraus. Besonders engagierte Unternehmen übernehmen diese Ausbildung gleich mit. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Als die Flüchtlingszüge nach Deutschland kamen, sah manch ein Manager darin die Lösung des Fachkräftemangels. Doch so einfach ist das nicht.

Von Varinia Bernau, Duisburg/Gelsenkirchen

Eine Schule konnte Abdouleye Fofana, 19, nur bis zur sechsten Klasse besuchen. Dann konnte seine Großmutter, bei der er aufwuchs, das nicht mehr bezahlen. Fofana versuchte, sich so durchzuschlagen in seiner Heimat Sierra Leone. Seine Hoffnung schwand. Stattdessen entstand der Traum von einem Leben in Europa. Im September, fast fünf Jahre nachdem er aufgebrochen ist, wird davon ein weiteres Stück Wirklichkeit: Fofana fängt in der Stahlsparte von Thyssen-Krupp eine Ausbildung an. "Ich werde alles daran setzen, das zu schaffen."

Allein im Stahlgeschäft von Thyssen-Krupp beginnen in den nächsten Wochen 300 Menschen eine Ausbildung - und zusätzlich 13 Flüchtlinge. Im gesamten Konzern soll es über die nächsten zwei Jahre 150 Ausbildungsplätze für die Zuwanderer geben. Etwa ein Jahr ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren berühmten Satz sagte: "Wir schaffen das." Unter der Bevölkerung gab es damals eine enorme Hilfsbereitschaft. Auch viele Manager meldeten sich zu Wort. Mancher sah in den vielen Flüchtlingen bereits die Fachkräfte, die Deutschland so dringend braucht.

Inzwischen hat sich die Lage etwas gewandelt: In der Bevölkerung wachsen Zweifel, ob Deutschland das wirklich schafft. Viele Manager sind leiser geworden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat kürzlich nachgezählt, wie viele Zuwanderer denn bei den 30 Dax-Konzernen einen festen Job gefunden haben: gerade einmal 54. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat daraufhin den Konzernchefs einen Brief geschrieben und sie gebeten, etwas mehr für die Flüchtlinge zu tun.

Gerade die Ausbildung wurde in Deutschland zumindest vor der Ankunft neuer Flüchtlinge im vergangenen Herbst vernachlässigt: Von den Asylbewerbern, die in den vergangenen 20 Jahren ins Land kamen und geblieben sind, lässt sich in einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung nachlesen, waren im Jahr 2013 mehr als die Hälfte Ungelernte - und die tun sich bei der Suche nach einem Job am schwersten. Zahlen zu Flüchtlingen unter denen, die nun ins neue Ausbildungsjahr starten, gibt es nicht. Schätzungen zufolge gibt es etwa 10 000, die im gewerblichen Bereich eine Lehre begonnen haben. Das Handwerk hat zudem zugesagt, innerhalb der nächsten Jahre gemeinsam mit dem Bildungsministerium und den Jobcentern 10 000 junge Flüchtlinge zu einem Berufsabschluss zu bringen.

Auch Ausbilder müssen sich mit fremden Kulturen vertraut machen

Doch das braucht Zeit. Oliver Burkhard, im Vorstand von Thyssen-Krupp für Personal zuständig, rechnet vor, dass allein für eine Prüfung bei der Industrie- und Handelskammer ein zusätzlicher Wortschatz von etwa 15 000 Fachbegriffen notwendig ist. Es ist kein Zufall, dass mit Abdouleye Fofana ein Flüchtling eine Ausbildung beginnt, der bereits seit zweieinhalb Jahren in Duisburg lebt. Bei seinem Praktikum bei Thyssen-Krupp im Juni war er beeindruckt, wie freundlich die Chefs waren - und wie interessiert an seiner Geschichte. In seiner Heimat sind ältere Menschen Respektspersonen. An die flacheren Hierarchien in seiner neuen Heimat muss er sich erst noch gewöhnen. "Die Menschen, die zu uns kommen, sind nicht der sofortige Ersatz für die Fachkräfte, die wir dringend brauchen", betont Burkhard. "Wer das glaubt, macht es sich zu einfach."

Auch der Konzern muss deshalb binnen kurzer Zeit dazulernen: Die Ausbilder in den Werken machen sich nun in Kursen vertraut mit dem Zuckerfest und der politischen Situation im Südsudan. Die Personaler in der Konzernzentrale verschaffen sich einen Überblick über die Wahrscheinlichkeiten einer Abschiebung und jene Länder, aus denen sie gar keine Bewerber einstellen dürfen, weil sie als sichere Herkunft eingestuft wurden. Mitunter ändern sich die Listen in wenigen Wochen.

Bei Unicblue, einem Dienstleister, der Firmen vom Messeauftritt bis hin zur Markenstrategie unterstützt, sind sie schon etwas weiter: Die Agentur mit 75 Mitarbeitern hat bereits im vergangenen August drei Flüchtlingen aus Eritrea und Guinea einen Ausbildungsplatz gegeben. Zwei lernen in der Werkstatt in Gelsenkirchen den Beruf des Schreiners, einer im Büro den des Kommunikations- und Marketingkaufmanns. Der erste Arbeitstag laut Vertrag fiel auf einen Samstag. Punkt sieben Uhr standen die drei vor der Tür, ein Mitarbeiter entdeckte sie später zufällig und sagte ihnen, dass sie erst am Montag anfangen. Vivien Przechowski, die sich in dem Familienunternehmen ums Personal kümmert, erzählt dies, um zu zeigen, welche Missverständnisse im Alltag lauern. Aber auch, wie engagiert die drei sind.

Przechowski ist jemand, der die Dinge anpackt, ohne viele Worte zu machen. Auf viele Fragen, die andere Unternehmer zögern lässt, hat sie pragmatische Antworten gefunden: Die mangelnden Deutschkenntnisse? Eine Lehrerin komme zwei Mal in der Woche. Die Kosten dafür fielen kaum ins Gewicht. Der unsichere Aufenthaltsstatus? Den schieben sie weg. Immerhin, mit dem neuen Integrationsgesetz sind sie für die Dauer der Ausbildung sowie für zwei weitere Jahre, sofern sie einen Job haben, vor einer Abschiebung geschützt. Der zusätzliche Papierkram? Dazu hat sie sich Hilfe gesucht. Die Diakonie helfe bei den Hausaufgaben und Behördengängen.

Ein einziges Mal hat Przechowski einen der Azubis ins Jobcenter begleitet - und war, wie sie sagt, schockiert darüber, dass dort ein ganz anderer Geist herrschte. Das Jobcenter wollte ihr dann auch noch weismachen, dass es einen viel besseren Bewerber für die Lehrstelle gebe: "Einen eloquenten Deutschen, der nach 18 Semestern sein Jurastudium kurz vor seinem Examen hingeschmissen hatte, weil er gemerkt hat, dass es ihm zu stressig ist." Diese Haltung, einem mit Einwänden zu kommen, statt sich zu freuen, dass sich ein Unternehmen engagiert, das habe sie geärgert.

Nicht jeder Praktikant ist bereit, Anweisungen von einer Frau zu akzeptieren

Das Ruhrgebiet ist eine Region, in die Menschen seit Generationen zum Arbeiten kamen - und in der sie eine Heimat gefunden haben. Doch auch vor den Werkstoren in Duisburg schimpfen manche, dass ein Flüchtling einen Ausbildungsplatz bekommt, aber der eigene Sohn nicht. Ein Praktikum mussten sie bei Thyssen-Krupp abbrechen, weil der Flüchtling Anweisungen, die eine Frau machte, nicht akzeptierte. Integration bedeutet eben nicht nur, Zuwanderern eine Chance zu geben, sondern auch, Werte zu verteidigen, die nicht verhandelbar sind. "So ein Konzern ist ein Spiegelbild der Gesellschaft", sagt Burkhard. "Es gibt diejenigen, die sich für Flüchtlinge engagieren, diejenigen, die sich nach Terroranschlägen Sorgen machen. Und auch diejenigen, die solcher Hilfe sehr skeptisch gegenüberstehen."

Inza Bamba, ein 19-Jähriger aus der Elfenbeinküste, hat, kurz vor seinem Praktikum bei Thyssen-Krupp, das Logo des Konzerns auf einer Rolltreppe entdeckt. "Dann habe ich das gegoogelt und gesehen, dass das eine große Firma ist." Seine strahlenden Augen lassen ahnen, was es für diesen Mann bedeutet, dort nun einen Ausbildungsplatz anzutreten. Er ist vor der Gewalt in seiner Heimat geflohen, ganz allein nach Deutschland gekommen. In seinem Flüchtlingsheim ist es abends lange laut, der Weg zum Werk dauert eine Stunde. Bamba ist trotzdem dankbar. "Wir wollen etwas zurückgeben."

© SZ vom 25.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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