Einkaufsverhalten:So machen Konzerne aus Kindern Konsumenten

Kinder kaufen ein

Kinder wollen im Spielzeugladen immer, was blinkt und funkelt.

(Foto: Stephan Rumpf)

Nie wurde in Deutschland für Kinder so viel Geld ausgegeben wie heute. Das liegt einerseits an cleverem Marketing - andererseits an der Unsicherheit vieler Eltern.

Von Hans von der Hagen, Lea Hampel und Silvia Liebrich

Das Puppenhaus steht im Eck des Zimmers, auf dem Boden liegen Bausteine. Auf der Holzkommode prangt eine Krone mit der Zahl sechs. Vor einigen Tagen hatte das Mädchen Geburtstag. Den hat es mit seiner Mama, der Schwester, dem Stiefvater und den Großeltern mütterlicherseits gefeiert, mit Kuchen, Geschenken, Gesang. Eine Woche später gab es eine Ritterparty beim Papa, mit Freunden und Kostümen. Zwei Wochen nach dem Fest ist der Papa mit der Tochter in den Spielwarenladen gegangen, sie durfte etwas aussuchen, einfach so. Man könnte meinen: Dem Kind geht es ziemlich gut. Und das stimmt. Aber nicht außergewöhnlich gut. Vielmehr ist das, was das Mädchen erlebt, Alltag in vielen deutschen Kinderzimmern.

Für die knapp 13 Millionen Kinder und Jugendlichen in der Bundesrepublik wird so viel Geld ausgegeben wie nie zuvor. An sie und ihre Eltern richtet sich eine Produktpalette, die bei der Kautschukgiraffe fürs Baby beginnt und über den Lillifee-Schulranzen und die Teenie-Mode bis zur Pauschalreise zum Schulabschluss reicht. Einst galt, das Kind von heute sei der Kunde von morgen, heute heißt es: Das Kind von heute ist der Konsument von heute. Vor einer "Kommerzialisierung der Kindheit" warnten Pädagogen schon in den Achtzigerjahren. Neu sind Ausmaß und Ursachen. Dass Kinder heute zu Konsumenten erzogen werden, liegt an einem Zusammenspiel aus raffinierter Werbung, verändertem Medienkonsum, einem neuen Verständnis von Elternschaft und einer stetig wachsenden Produktwelt.

1500 Nahrungsmittel speziell für Kinder, mehr als 270 000 Spielzeuge bei Amazon

Theresa Scheitzenhammer, die Mutter des eingangs erwähnten Mädchens, fasst die Warenwelt in einem Satz zusammen: "Vorher war der halbe dm interessant, jetzt ist es der ganze." Es gibt in dem Drogeriemarkt eben nicht nur Klopapier und Putzmittel, sondern Strampler, Feuchttücher. und Hunderte andere Dinge, die das Baby potenziell fröhlicher, sauberer, gesünder machen. Sie sind Ausdruck eines Überangebots, das beginnt, bevor Kinder auf der Welt sind. Als Scheitzenhammers erste Tochter unterwegs war, kam das zusammen, was die 32-Jährige "die komplette Ausstattung" nennt: Kinderwagen, Wärmelampe, Autositz und vieles mehr. Manches fand sie sinnvoll. Anderes, wie drei Tragesysteme, weniger. Vor allem aber fand sie das: viel.

Kein Wunder. Die Produktpalette für Kinder erweitert sich stetig. 1500 Nahrungsmittel gibt es speziell für sie, stellte die Organisation Foodwatch 2011 fest. Beim Versandhändler Amazon finden sich nur für 2- bis 4-Jährige mehr als 270 000 Spielzeuge. Die Kinderzahl sinkt, die Branche wächst. Aus guten Gründen: Jedem Kind stehen monatlich durchschnittlich 26 Euro zur Verfügung, plus etwa 180 Euro Geldgeschenke pro Jahr. Ergibt knapp 3,4 Milliarden Euro - und eine begehrte Zielgruppe.

Entsprechend ausgefeilt ist das Marketing: "Wenn man Kinder anspricht, spricht man auch die Eltern an - das hat auch die Werbebranche erkannt", sagt Forscher Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut. Bereits in den Sechzigerjahren gab es auf Kinder ausgerichtete Werbung in den USA, seit mehr als 30 Jahren gibt es sie auch in Deutschland. Vor allem Merchandising zu einzelnen Figuren, aber auch das gezielte Einbinden von Produkten in Filmen, Serien und indirekte Werbung durch Produkttests nehmen zu. Bei jungen Menschen wirken diese Methoden besonders. "Kinder können bis zum elften Lebensjahr Werbung nicht kritisch beurteilen und oft auch nicht als solche erkennen", sagt Tobias Effertz vom Institut für Recht der Wirtschaft der Universität Hamburg.

Die gezielte Ansprache funktioniert auch, weil Kinder stärker Medien nutzen. 72 Prozent aller 6- bis 13-Jährigen lesen regelmäßig Magazine, zeigt eine Analyse des Egmont Ehapa Verlags von 2015, 82 Prozent der Altersgruppe haben Computer-Erfahrung. Die Hälfte der Kinder unter zehn Jahren surft im Internet, viele haben ein Handy oder Tablet.

Netzwerke wie Instagram fördern einen permanenten Wettbewerb

Die schiere Menge an Werbung hat also zugenommen, vor allem aber die Art der Einflussnahme. Der jahrzehntealte Drang Heranwachsender, sich durch Kleidung und Produkte auszudrücken, bekommt mit den sozialen Medien eine neue Dimension. Das Netzwerk Instagram etwa bedeutet: ständige Bilderflut. Etwas eingekauft? Der Urlaub in Italien? Zack, hochladen, verbreiten. Kai-Uwe Hellmann, Soziologe an der TU Berlin, sagt über Jugendliche, die sich online präsentieren: "Sie spielen ein Stück, sie haben eine bestimmte Rolle für sich ausersehen und müssen dafür eine Vorderbühne, einen Theaterraum schaffen."

Weil soziale Netzwerke international und dauernd verfügbar sind, ist nicht mehr nur wichtig, welche Hosenmarke der coolste Typ der Klasse trägt, sondern was ein Youtuber als hip bezeichnet. Das Ergebnis ist permanenter Wettbewerb, in dem sich Identität über Konsum definiert. Das nutzen Unternehmen. Die direkte Ansprache über soziale Medien, sagt Effertz, funktionierte "1000-mal besser als passive Medien. Produktwerbung kann im Freundeskreis gestreut werden, man kann es liken, teilen. Es findet eine aktive Auseinandersetzung mit Produkten statt."

In Patchworkfamilien gibt es an Geburtstagen alles doppelt

Dass junge Menschen Konsum sogar als Hobby ansehen, hat allerdings Gründe, die weit über Marketing und Medienkonsum hinausgehen. Die liegen in den Familien - darin, dass beide Eltern arbeiten und sich das Verhältnis zu den Kindern verändert. Seit Jahrzehnten wird der Fokus auf das Kind größer. Inzwischen drückt sich Wertschätzung in Investitionen aus. Gute Elternschaft und Konsum gehören zusammen. Der alte Elternsatz, dass das "Beste gerade gut genug" sei, gilt weiter. Aber "das Beste" definiert sich in Produktkategorien.

Das spielt zusammen mit elterlicher Unsicherheit, beobachtet Theresa Scheitzenhammer. "Vor allem am Anfang weiß man nicht, was man braucht und tun soll, will aber alles richtig machen." Statt wie einst die Großeltern um Rat zu fragen, gibt es Onlineforen, Erziehungsratgeber, eine Unmenge an Informationen - aus der Verunsicherung wird Professionalisierung. Scheitzenhammer ärgert sich jedes Mal, wenn in der Apotheke Broschüren ausliegen, wie sie ihre Kinder besser ernähren kann. "Man muss sich sehr zusammenreißen, sich nicht verunsichern zu lassen."

Verstärkt wird das durch eine veränderte Vorstellung von Erziehung: Verhandlungen statt Festlegen gilt heute, Kinder werden stärker in Entscheidungen einbezogen. Früher, erklärt Jugendforscher Alt, galt: "Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt." Heute heißt es: "Willst Du Nudeln oder Kartoffeln?" Sogar beim Auto oder Urlaub dürfen die Jüngsten mitreden. Insgesamt, rechnen Marketingexperten vor, können Kinder zwischen sechs und 13 Jahren über Kaufentscheidungen im Wert von etwa zwölf Milliarden Euro jährlich mitentscheiden. Der Schritt von Kunde ist König zu Kind ist König ist da nicht mehr weit.

Fehlende Zeit kompensieren viele Eltern durch Produkte

Seit öfter beide arbeiten, haben viele Eltern zudem ein schlechtes Gewissen. Die Zeit mit den Kindern scheint ihnen zu wenig zu sein, manche kompensieren das durch Produkte. Wegen der steigenden Zahl an Patchworkfamilien verstärkt sich die Dynamik: Scheitzenhammers Tochter bekommt Geschenke von den Urgroßeltern, zwei Paar Großeltern, zwei Elternpaaren und Freunden. Das liegt auch am gestiegenen Wohlstand. Zu zwei Elterneinkommen kommt eine Großelterngeneration mit mehr Geld und weniger Enkeln. Daraus ergibt sich eine schwierige Frage: Wenn man aus materiellen Gründen nicht Nein sagen muss, welche Gründe nennt man? Scheitzenhammer versucht, ihrer Tochter beizubringen, dass es Eis nur an warmen Tagen gibt. "Aber jetzt kommt der Sommer. Mal schauen, was ich dann sage."

Schwer ist das auch, weil Erwachsene selbst mehr konsumieren - gegenüber dem Nachwuchs Verzicht zu predigen, ist umso schwieriger. Und selbst wer sich selbst einschränkt, spart nicht an den Kindern: "Viele Eltern leben ihren Konsumdrang über die Kinder aus", findet Scheitzenhammer, "letztendlich kauft man sich über das Kind selbst was".

Bei ihr hat sich das ins Gegenteil verkehrt. Sie reduziert, benutzt etwa wieder verwendbares Fleece statt Feuchttücher aus der Packung. Die Kinder, ist Scheitzenhammer überzeugt, sind mit all den Waren ohnehin überfordert. Für ihre Zweijährige reicht eine kleine Holzkiste für all ihr Spielzeug. Gerade hat sie sogar daraus aussortiert, weil ihre Tochter ohnehin immer mit den gleichen Dingen spielt. "Am interessantesten sind für Kinder eh Sachen, die Erwachsene haben", sagt sie und lacht.

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