Süddeutsche Zeitung

Einigung mit Griechenland:Gar nichts ist gut

Trotz Einigung haben Griechenland und Deutschland einen Scherbenhaufen angerichtet. Europa kann nur funktionieren, wenn Ordnungssinn und Lebensfreude endlich eine Symbiose eingehen.

Kommentar von Claus Hulverscheidt, New York

Und nun? Alles wieder gut? Nach zähem Ringen also haben sich die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone grundsätzlich auf weitere Hilfen für Griechenland verständigt. Der drohende Zerfall der Währungsunion ist damit abgewendet, vorerst zumindest. Und doch: Nichts ist gut.

Denn so wichtig das Signal des Zusammenhalts nach innen wie außen auch ist, so viel Porzellan ist auf dem Weg dorthin zerschlagen worden. Es wird Jahre dauern, bis der Scherbenhaufen aufgekehrt und das zerbrochene Vertrauen in Europa wieder gekittet sein wird. Vielleicht wird es sogar nie wieder so sein wie vorher.

Die Art und Weise, wie der griechische Premier Alexis Tsipras seine EU-Amtskollegen monatelang an der Nase herumgeführt hat, wird ebenso in dauerhafter Erinnerung bleiben wie die Tatsache, dass Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ausgerechnet vor dem alles entscheidenden Wochenende ein Papier in die Welt setzen ließ, das Athen den Austritt aus der Währungsunion nahelegt. Wenn Tsipras für den Euro ein Sicherheitsrisiko ist, dann ist es Schäuble allemal.

Auf Tsipras und Merkel wird man mit dem Finger zeigen

Überhaupt, die Deutschen und die Griechen: Angela Merkel hat in den vergangenen Jahren immer wieder betont, dass es nicht diese beiden Nationen seien, die sich am Verhandlungstisch gegenübersäßen, sondern Griechen und Europäer. Das ist so richtig, wie es falsch ist, denn de facto war es natürlich die Bundeskanzlerin, die den Kurs eben jener Europäer geprägt hat. Es ist deshalb nur folgerichtig, dass es Tsipras und sie sind, auf die man trotz der Einigung in letzter Minute noch mit dem Finger zeigen wird.

Tsipras hat seinem Land einen Bärendienst erwiesen, als er das Wahlergebnis von Ende Januar als Auftrag fehlinterpretierte, ganz Europa zum Sozialismus zu bekehren, statt den eigenen Laden in Ordnung zu bringen. Er vergaß, dass es neben den Griechen noch 18 weitere Völker in der Euro-Zone gibt, die ihn weder gewählt haben, noch von ihm missioniert werden möchten, sondern die jedes Recht haben zu fragen, ob mit ihrem Geld in Griechenland verantwortungsvoll umgegangen wird.

Es sind Völker darunter, die ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen haben als die Griechen und denen in den vergangenen 20 Jahren niemand geholfen hat, als sie selbst in großen Schwierigkeiten steckten. Sie alle hat die griechische Führung mit ihrem nonchalant-arroganten Auftreten, mit dem Gerede von "Erpressung" und "Terrorismus" beleidigt und vor den Kopf gestoßen. Die Menschen werden das so schnell nicht vergessen.

Umgekehrt hat Angela Merkel es geschafft, das Bild des hässlichen, hartherzigen und geizigen Deutschen wiederzubeleben, das gerade so ein wenig verblasst war. Jeden Cent an Griechenland-Hilfe, den sie den Bundesbürgern zu ersparen suchte, wird sie in den kommenden Jahren doppelt und dreifach ausgeben müssen, um dieses Bild wieder aufzupolieren.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte wie jetzt geschehen, ist einem grundverschiedenen Verständnis darüber geschuldet, was Politik eigentlich ausmacht. Angela Merkel hat Europa seit Ausbruch der Krise mit einem dichten Netz an Pakten, Abkommen und Verträgen überzogen, in dem sich die Währungsunion längst verheddert hat und das ihr heute die Luft zum Atmen nimmt. Politik, das bedeutet für die Physikerin Merkel das Aufstellen und Einhalten von Regeln. Am Ende wurden diese Regeln zum Politikersatz.

Als deutsche Regelokratie wird Europa auf Dauer nicht funktionieren

Für die meisten anderen Staaten hingegen ist Politik etwas ganz anderes, nämlich ein permanenter Verhandlungsprozess, bei dem Regeln allenfalls das Gerüst, ein Mittel zum Zweck, darstellen. Regeln sind nach diesem Verständnis veränderbar und können die konkrete Auseinandersetzung über ein Streitthema niemals ersetzen. Deshalb wirkt es auch auf Menschen in diesen Ländern weniger abstoßend, wenn es bei den Verhandlungen manchmal zugeht wie auf einem Basar. Im Gegenteil: Streiten, feilschen, einigen - das ist nach dieser Lesart geradezu das Wesen von Politik.

In einer solchen Gedankenwelt ist so etwas wie der in Deutschland zeitweise diskutierte "Graccident" - also eine versehentliche Staatspleite, weil etwa eine Zahlungsfrist verstrichen ist - unvorstellbar: Schließlich lassen sich Fristen verschieben, Uhren anhalten, Zahlungstermine aussetzen.

Man kann sich aus deutscher Sicht über einen solchen Laissez-faire-Politikansatz trefflich erregen und ihn in Bierzelten auch gewinnbringend ausschlachten. Man kann ihn aber nicht ändern - und man sollte es auch nicht: Wer die Einheit der europäischen Völker wirklich will, wer in Europa mehr als eine Matrix aus Institutionen und Paragrafen sieht, der sollte unterschiedliche politische und gesellschaftliche Kulturen nicht als notwendiges Übel, sondern als Gewinn begreifen.

Als deutsche Regelokratie jedenfalls wird Europa auf Dauer nicht funktionieren. Der Kontinent wird als politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Einheit vielmehr nur überleben, wenn deutscher Ordnungssinn und südeuropäische Lebensfreude endlich eine Symbiose eingehen.

Selbstverständlich sind Regeln für das Zusammenleben der Menschheit wichtig und sinnvoll. Und selbstverständlich sollten sie prinzipiell auch eingehalten werden. Genauso klar muss aber sein, dass das europäische Regelbuch nicht die Bibel ist. Dass Bestimmungen politisch veränderbar sind und an spezifische Situationen angepasst werden können, ja, müssen. Dass es Regeln gibt, deren Anwendung für Portugal Sinn ergeben mag, für Griechenland aber nicht.

Dass Politik also mehr ist als Schema-F-Verwaltung.

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