Der Skandal um Fipronil hat größere Ausmaße als bislang bekannt. Das Insektizid hat nicht nur frische Hühnereier kontaminiert, sondern steckt in zahlreichen weiteren Lebensmitteln, wie Behörden auf Anfrage einräumen.
Die Substanz ist offenbar über verseuchte Eier in die Lebensmittelkette gelangt, die Bundesregierung spricht von mehr als 100 Funden in knapp 500 Proben. Experten werfen der Regierung jedoch vor, das wahre Ausmaß der Affäre zu verschleiern. Mit Messtricks und der laxen Auslegung von Vorschriften werde verhindert, dass die Lebensmittelindustrie in großem Stil zu Marktrücknahmen und Rückrufen verdonnert werde. Hinter den Kulissen ist Streit zwischen Bund, Ländern und EU-Kontrolleuren entbrannt.
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Nach dem Rückruf vieler Millionen Eier begannen Behörden Anfang August mit einem brisanten Test. Sie forschten nach, ob auch eihaltige Lebensmittel vom Fipronil-Skandal betroffen sind. Bis Ende Oktober sollen dazu fast 800 Proben ausgewertet werden. Ein Zwischenergebnis, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, belegt nun, dass das Insektengift in vielen anderen Produkten in Supermärkten gelandet ist.
Mehr als 20 Prozent der getesteten Produkte waren auffällig
Dem Bundeslandwirtschaftsministerium liegen 473 Analysen und somit bereits mehr als die Hälfte der Ergebnisse vor. "Nach vorläufiger Auswertung wurden ... in 103 Proben Rückstände von Fipronil gefunden", teilt das Ministerium mit. Davon lagen 25 "über dem einschlägigen Rückstandshöchstgehalt". Im Klartext: Mehr als 20 Prozent der getesteten Produkte waren auffällig. Davon wiederum lag jedes vierte über dem Grenzwert. Insider sprechen von "beachtlichen Zahlen" und einer besorgniserregenden Trefferquote.
Belastet waren den Angaben der Behörden zufolge ganz unterschiedliche Lebensmittel. "Häufige Rückstandshöchstgehaltsüberschreitungen" habe man in den Kategorien "Vollei getrocknet", "Likör mit Eierzusatz", "Eiersalat" und "Feine Backwaren" gefunden, teilt das Ministerium mit.
Doch während im August Millionen Eier mit viel Tamtam aus dem Verkehr gezogen wurden, bleiben die Behörden bei verarbeiteten Produkten bislang seltsam zahm. Beispiel Nordrhein-Westfalen: Zwar räumen die Behörden dort mehrere Grenzwertüberschreitungen ein.
Rückrufe wollte man den Herstellern aber offenbar nicht zumuten. Dafür habe die Rechtsgrundlage gefehlt, teilt das zuständige Ministerium für Landwirtschaft und Verbraucherschutz mit. Die Unternehmen konnten die Ware diskret in einem "stillen Rückruf" aus den Regalen nehmen. Kunden, die die Produkte bereits gekauft hatten, wurden nicht informiert. Insider sehen darin den Versuch, kurz vor der Bundestagswahl die Öffentlichkeit nicht mit neuen Schreckensmeldungen zu konfrontieren.
Selbst in Überwachungsbehörden kritisiert man offen, dass das wahre Ausmaß des Skandals unter den Teppich gekehrt werden soll. Labore seien dazu angehalten worden, nicht so genau zu messen, wie es eigentlich nötig wäre. "Wenn man ein verarbeitetes Produkt untersucht, untersucht man verdünntes Ei", sagt ein Mitarbeiter eines Untersuchungsamts, der nicht namentlich genannt werden will.
"Da müsste man entsprechend empfindlicher messen, zum Beispiel, indem man mit einem erhöhten Injektionsvolumen oder mit größeren Einwaagen arbeitet. Wir wurden aber angehalten, nicht so genau hinzusehen." Selbst mit den unempfindlichen Messungen ist in vielen Produkten Fipronil entdeckt worden. "Wenn man uns erlaubt hätte, weiter runterzumessen, hätten wir noch viel mehr gefunden." Man habe ein System der "Verbraucher-Nicht-Information" etabliert.
Mehrere Landesministerien, in deren Zuständigkeit die Lebensmittelüberwachung liegt, bestreiten auf Anfrage, entsprechende Anweisungen gegeben zu haben. Das Verbraucherschutzministerium in Kiel betont, die Bestimmungsgrenze sei bei der Vermessung von eihaltigen Produkten sogar "um das bis zu 10-Fache verringert" worden, "um möglichst empfindlich messen zu können".
Doch offenkundig ist, wie sehr zwischen den Ministerien darüber gestritten wird, ob dem Schutz der Verbraucher oder dem der Hersteller höhere Priorität eingeräumt wird. In Niedersachsen wirft man dem Bund ganz offen Vertuschung vor. "Bei Fipronil muss auch für verarbeitete Produkte die Maxime gelten: Null Toleranz.
Das wäre ein deutliches Signal an die Panscher", sagt Niedersachsens Agrarminister Christian Meyer (Grüne). "Aber Bundesagrarminister Schmidt verwässert ein solches striktes Vorgehen durch zu hohe erlaubte Rückstandswerte, um möglichst wenig zurückzurufen." Niedersachsen spreche sich für die schärferen Grenzen aus, die in Teilen der EU verfolgt werden, sagt Meyer. Es sei nicht auszuschließen, dass spezialisierte Labors auch im Routinebetrieb noch geringere Konzentrationen nachweisen können, räumt das Bundeslandwirtschaftsministerium ein.
Verbraucherschützer fordern daher ein härteres Vorgehen: "Fipronil hat auch in verarbeiteten Produkten nichts zu suchen. Rückrufe wären dringend notwendig", sagt Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale-Bundesverbands. "Das Krisenmanagement der Behörden beim Fipronil-Skandal hatte deutliche Mängel."
Fipronil kann Insekten rasch töten. Das Gift wird eingesetzt, um Pflanzen vor Schädlingen zu schützen oder Haustiere von Parasiten zu befreien. Wo Lebensmittel produziert werden, ist es verboten. Rein rechtlich wären also auch bei geringsten Rückständen Rückrufe möglich. Doch die Ministerien berufen sich auf Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung, wonach frühestens ab dem gigantischen Wert von 720 Mikrogramm pro Kilogramm Fipronil im Ei Gefahr droht. Von Eiern, die den Rückstandshöchstgehalt von 5 Mikrogramm pro Kilogramm reißen, gehe dagegen keine akute Gesundheitsgefahr aus.
Auf EU-Ebene droht das laxe Prozedere weiterzugehen
Die Affäre hat ihren Ursprung in Belgien und den Niederlanden, von wo belastete Eier nach Deutschland gelangten. Die belgische Firma Poultry-Vision hatte ein mit Fipronil gepanschtes Desinfektionsmittel an die niederländische Reinigungsfirma Chickfriend geliefert, die es offenbar in Hühnerställen einsetzte.
Auf EU-Ebene droht das laxe Prozedere weiterzugehen. In einem von Dienststellen der EU-Kommission verfassten Vorschlag zum Umgang mit dem Fipronil-Skandal wird zwar vollmundig ein schärferes Vorgehen entworfen, "um ein hohes Gesundheitsschutzniveau zu gewährleisten". Doch Lebensmittel, die mit verseuchten Eiern hergestellt wurden, sollen dem Vorschlag zufolge nur vom Markt genommen werden. Ein Rückruf vom Verbraucher wird erst ab 720 Mikrogramm Fipronil pro Kilogramm im Ei-Anteil gefordert.
Zudem werden Unterschiede gemacht, ob Lebensmittel vor oder nach dem 1. August - zu dem laut Entwurf "die Kontamination allgemein bekannt war" - produziert wurden. Falls ein Hersteller vorher Fipronil-haltige Eier verwendet hat, muss er nichts tun, solange die Eier unter der 720er-Marke geblieben sind. Er kann darauf warten, ob die Behörden bei ihrer überschaubaren Probennahme das Gift in seinen Produkten finden. Dabei dürfte es für den Verbraucher wohl kaum einen Unterschied machen, ob der Hersteller von dem Fipronil-Skandal wusste oder nicht.