Edmund Stoiber im Interview:"Brauchen wir noch Hosenträger?"

Kampf der Bürokratie: Edmund Stoiber und Johannes Ludewig über die staatliche Regelungswut, die Gefühle eines Sisyphos - und die Vorzüge von Amtsschimmel.

Claus Hulverscheidt

An diesem Mittwoch berichten die Chef-Bürokratiebekämpfer der EU und Deutschlands, Edmund Stoiber und Johannes Ludewig, vor dem Wirtschaftsausschuss des Bundestages über ihre Arbeit. Stoiber leitet die "High Level Group" in Brüssel. Ihr gehört auch Ludewig an, der zudem den nationalen Normenkontrollrat führt. In der SZ ziehen beide schon vorab Bilanz.

Edmund Stoiber

Edmund Stoiber: "Ist eine Heiratsurkunde, die in München ausgestellt wurde, auch in Malaga gültig?"

(Foto: AP)

SZ: Herr Stoiber, 21 Prozent der Europäer und gar 39 Prozent aller Deutschen fällt beim Gedanken an die EU sofort der Begriff Bürokratie ein. Wie kommt das?

Edmund Stoiber: Das liegt daran, dass die EU immer mehr Zuständigkeiten für das Alltagsleben der Menschen hat. Denken Sie etwa an den Verbraucherschutz, das Lebensmittelrecht oder das Arzneimittelrecht. Mittlerweile kommen 85 Prozent aller Gesetze, Industrienormen und sonstigen Rechtsakte letztlich aus Europa.

SZ: Die Europa-Skepsis der Menschen nimmt immer weiter zu - nicht nur, aber auch wegen des Bürokratie-Frusts. Wie gefährlich ist diese Entwicklung?

Stoiber: Sehr gefährlich, weil sie den Blick darauf verstellt, welch unglaubliche Chancen Europa bietet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Menschen diese Vorteile noch unmittelbar gespürt: Frieden, Freiheit, freie Wohnortwahl, freie Berufswahl. Heute wird das alles für selbstverständlich gehalten. Durch unsere Arbeit versuchen wir, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass die Akzeptanz Europas bei den Bürgern nicht durch unnötig viel Bürokratie noch zusätzlich geschwächt wird.

SZ: Herr Ludewig, Sie kämpfen auf nationaler Ebene gegen die Regelungswut. Wie oft werden Ihnen dabei aus Brüssel Knüppel zwischen die Beine geworfen?

Johannes Ludewig: Mehr als die Hälfte der Gesetze, die wir in Deutschland machen, gehen auf europäische Richtlinien zurück. Damit sage ich aber nicht, dass mir Knüppel zwischen die Beine geworfen würden. Ich glaube, dass ein Gutteil des Ärgers über die EU damit zu tun hat, dass die Menschen zu wenig über die Arbeit der europäischen Gremien erfahren. In der deutschen Öffentlichkeit kommen neue Vorschriften aus Brüssel ja meist erst dann an, wenn die Diskussion auf EU-Ebene längst abgeschlossen ist.

Stoiber: Dem kann ich nur zustimmen. Nehmen Sie einmal das Beispiel der alten Glühbirne: In Deutschland wurde das so wahrgenommen, als habe die EU-Kommission deren Abschaffung praktisch im Handstreich entschieden. In Wahrheit war darüber im Europa-Parlament monatelang debattiert worden.

SZ: Können Sie ein paar konkrete Punkte nennen, was ihre Arbeit den ganz normalen Bürgern bringt?

Stoiber: Die wichtigste Entscheidung, die wir getroffen und in den EU-Gremien auch durchgesetzt haben, ist die, dass die Firmen in Europa ihre Mehrwertsteuerberechnungen jetzt rechtsverbindlich auf elektronischem Wege verschicken können. Eine schriftliche Rechnung kostet laut BDI fünf bis sieben, eine elektronische zwei Euro. Überlegen Sie bei zig Milliarden Rechnungen im Jahr einmal, was das heißt. Das ist ein gigantisches kostenloses Konjunkturprogramm.

Ludewig: Es ist im übrigen auch ein gutes Beispiel für die gelungene Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Normenkontrollrat und Herrn Stoibers Gruppe: Die Vereinfachung wurde in Brüssel als Angebot an die 27 Mitgliedsstaaten beschlossen, und wir haben uns dann beim Bundesfinanzminister nachdrücklich dafür eingesetzt, diese Option nun auch umgehend zu nutzen. Sie ist jetzt Gott sei Dank Teil des Steuervereinfachungsgesetzes, das derzeit in Arbeit ist.

SZ: Wir hatten allerdings nach Vereinfachungen für den kleinen Mann gefragt.

Ludewig: Wir haben beispielsweise dafür sorgen können, dass die Antragsverfahren beim Wohngeld, beim Elterngeld und beim Bafög einfacher wurden. Beim Bafög etwa können die Anträge vollelektronisch gestellt und bearbeitet werden, so zum Beispiel in Bayern. Andere Länder müssen hier noch aufschließen.

Stoiber: Bei uns liegt der Fokus eher im Bereich der Wirtschaft, was nicht heißt, dass wir uns nicht auch mit den konkreten Problemen der Menschen befassen würden. Beispiel: Ist eine Heiratsurkunde, die in München ausgestellt wurde, auch in Malaga gültig?

SZ: Bürokratieabbau ist wichtig, aber ein zweischneidiges Schwert: Einerseits werden die Menschen durch bürokratische Regelungen gegängelt, andererseits erhalten sie auch Sicherheit.

Ludewig: Absolut richtig. Nehmen Sie das Beispiel der Bankberatung: Hier sind die Vorschriften nach der Finanzkrise aus gutem Grund verschärft worden. Da kann man natürlich nicht nachher über mehr Bürokratie klagen.

Stoiber: So lange es abstrakt bleibt, ist jeder, aber auch wirklich jeder, für Bürokratieabbau. Wenn es aber konkret darum geht, Mut zur Lücke zu beweisen, ist es mit dem Heldentum schnell vorbei.

SZ: Brauchen wir also ein Mindestmaß an Bürokratie?

Stoiber: Selbstverständlich. Regeln und deren Vollzug sind ja geradezu kennzeichnend für einen Rechtsstaat. Es geht nur um das rechte Maß. Natürlich will jeder verhindern, dass ihm die Hose rutscht. Die Frage ist aber: Reicht es, wenn ich mir einen Gürtel umziehe, oder brauche ich darüber hinaus noch Hosenträger und eine Sicherheitsnadel?

SZ: Die Politik hantiert gerne mit riesigen zweistelligen Milliardensummen, wenn es darum geht, um wie viel die Firmen durch Bürokratieabbau entlastet werden. Wie messen Sie eigentlich, ob diese Ziele tatsächlich erreicht werden?

Ludewig: Wir verwenden ein mit der Wirtschaft abgestimmtes Verfahren, das sehr genau Auskunft über die Bürokratiebelastung der Unternehmen gibt. Da werden dann aus den von Ihnen genannten riesigen Summen gerade für kleine und mittlere Betriebe ganz konkrete, begreifbare Beträge, um deren Reduzierung wir uns kümmern können.

SZ: Inwieweit fühlen Sie beide sich wie Sisyphos, die Gestalt aus der griechischen Mythologie, die immer, wenn die Arbeit getan war, wieder von vorne beginnen musste?

Ludewig: Das liegt natürlich ein Stück weit in der Natur der Sache. Aber wir machen wirklich Fortschritte: Dadurch, dass die Ministerien heute bei der Ausarbeitung eines Gesetzes immer auch die entsprechenden Bürokratiekosten ausrechnen und angeben müssen, ändert sich Schritt für Schritt die Gesetzgebungskultur. Das macht mir Mut.

Stoiber: Das kann ich unterstreichen. Als ich dieses Ehrenamt annahm, wurde mir zum Teil auch Häme entgegengebracht, zum Beispiel aus dem Europäischen Parlament. Mittlerweile unterstützen mich alle - selbst die Sozialisten.

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