Sein Lieblingsrad? "Das hier, Whitey", sagt Paul Benjamin, und streichelt über den Rahmen. Natürlich würde er nie "Rad" sagen, schon weil er gebürtig aus Cambridge kommt. Benjamin spricht immer nur von "Bike". Neben Whitey gibt es noch Pinky, Goldie und Bluey, abgeleitet jeweils von der Farbe des Rahmens. Whitey ist schwarz-weiß, ansonsten unterscheidet es sich kaum von den anderen.
Möglicherweise schenkt er diesem Rad aber auch nur deswegen besondere Beachtung, weil es, nun ja, verletzt ist. Whitey trägt an einer Stelle eine Art Gips, der die Beweglichkeit des Rahmens einschränken soll. Es ist ein sogenanntes Fully-Bike, es ist vorne und hinten gefedert. Natürlich ärgert es Benjamin, dass Whitey da jetzt irgendwo nahe am Sattelrohr noch eine Schwachstelle hat. Andererseits: "Dazu sind Vorserienbikes wie Whitey ja da." In der virtuellen Welt sei alles gut gewesen. Aber erst, wenn das Rad als Hardware vor einem stehe, lasse sich testen, was es wirklich aushalte.
Start-up-Wettbewerb:Gipfelstürmer gesucht
Der SZ-Wirtschaftsgipfel zeichnet die besten jungen Firmen aus. Die Bewerbungsfrist läuft bis Ende August.
Whitey unterscheidet sich von einem Mountainbike durch seine mächtigen Reifen. Mit ihnen zählt es zu einer Kategorie Räder, die seit einigen Jahren zunehmend Freunde findet: Fatbikes. Die wurden, so will es der Mythos, einst in Nordamerika erfunden, um das Fahren auf Schnee, Kieseln und Sand leichter zu machen. Aber da ist noch etwas - "das Herz des Bikes". Benjamin zeigt auf ein zylinderförmiges Stück Metall, dort, wo normalerweise das Tretlager sitzt. "Diese elektrische Maschine hat so viel Power, 120 Newtonmeter", sagt er. "Wäre es erlaubt, könnte das Rad auch 70 Kilometer pro Stunde fahren. Und Du kommst damit jeden Berg hoch. Super, super cool." Benjamin setzt das Adjektiv "super" super-oft ein und meist mit Wiederholung. Genauso wie der frühere Bayerntrainer Pep Guardiola. Aber es wirkt nicht aufgesetzt, ganz im Gegenteil: Es passt zu ihm und seiner Begeisterung für E-Bikes, dem am schnellsten wachsenden Segment im Fahrradbereich.
Trifft man Benjamin zum ersten Mal, mag man denken: typischer Mountainbiker, der sich sein Traumrad baut. Kurze Haare, Fast-Bart, Sonnenbrille, quirlig. "Nein", sagt Benjamin. Als erstes war da nur der Name. "Ich wollte unbedingt mal eine Firma besitzen, die "Wicked" heißt. Das Wort hat im Englischen viele Bedeutungen, es kann böse heißen, meist wird es heute aber für "geil, genial oder cool" verwendet. Jetzt heißt seine Firma Wicked Enterprises. Sie hat ihren Sitz in München und ist die Dachgesellschaft, unter der Benjamin nicht nur Fahrräder verkaufen will, sondern auch alle dazugehörigen Geschäfte bündeln möchte - angefangen beim Design bis hin zum Service.
Studiert hatte Benjamin Germanistik und Betriebswirtschaft. Vor knapp zwanzig Jahren, er unterrichtete gerade Englisch auf Kreta, sah er eine Anzeige von BMW. Gesucht wurden englischsprachige Uni-Absolventen. Es war die Zeit, als sich die Münchner von der britischen Tochter Rover trennten. Nur der Mini blieb, sollte aber neu in Oxford gefertigt werden. Zwölf Mitarbeiter wurden darum eingestellt, um die neuen Fertigungssysteme aufzubauen. Einer von ihnen war Benjamin. Zunächst lernte er ein Jahr lang die digitale Welt von BMW kennen. "Ich bin zwar kein Informatiker, aber liebe die IT", sagt er. "Und das Projektgeschäft. Das ist so super, super cool."
Nicht jedes Detail muss perfekt sein. Es geht hier nicht darum, Träume zu verwirklichen, die am Ende keiner bezahlen kann. Ein Auto, ein Fahrrad dürfe nicht "overengineered" sein, sagt Benjamin. "Wer perfekt sein will, zahlt zu viel an Geld und Zeit." Schon jetzt kosten seine Räder, die noch nicht auf dem Markt sind, in der Vorbestellung knapp 7000 Euro. "Klar, ich könnte noch teurere Komponenten verwenden, aber wer kauft das Rad noch, wenn ich 10 000 Euro dafür verlange?" Ein Unternehmer müsse eben am Ende etwas auf die Straße bringen. Das gehe nur, wenn die Produktion "lean" sei. Schlank.
Benjamins Produktion ist noch sehr schlank. Vor einem Jahr existierte gerade mal eine Skizze des Rads, gezeichnet mit wenigen Strichen, beschriftet auf Deutsch und Englisch. "Elegant" steht das etwa, "futuristic" und: "Mittelmotor". Heute existieren zehn Vorserienmodelle, die freilich noch von Institutionen wie dem TÜV zertifiziert werden müssen, bevor sie in Serie gehen können. Der Rahmen des Rads besteht aus Carbon, dem derzeit leichtesten Material, das die Industrie zu bieten hat. Die Verarbeitung von Carbon ist allerdings so aufwendig, dass Benjamin die Rahmen in Asien fertigen lässt. Daneben stehe er derzeit mit 15 bis 20 Leuten in Kontakt, um die Produktion anzuschieben, sagt Benjamin. Offizielle Räumlichkeiten hat er noch nicht. Das Büro ist die heimische Terrasse, geschraubt wird in der Garage. Wer mitarbeitet, macht das auf Freundschaftsbasis oder Rechnung. Seit Anfang August pausiert er für ein halbes Jahr bei BMW. Je länger man dort sei, desto schwerer falle die Entscheidung, selbst noch etwas aufzubauen. "Ich bin 44 und habe natürlich nicht nur meinen Job, sondern auch meine Familie. Dann kommt man eben zu dem Punkt: jetzt oder nie. Ich habe mich entschieden: jetzt. Let's try it."
Neben Fatbikes will Benjamin Mountainbikes und Urbanbikes bauen. Alles mit Elektromotor und "mit schönen Linien, wie bei BMW". Außerdem: Cargobikes zum transportieren von Lasten. Das Cargobike war sogar sein erstes Vorhaben. "Elektromobilität ist so ein großes Thema." Alle Leute bestellten ihre Sachen im Internet. Solange die Pakete nur von einer Stadt zur anderen gelangen müssten, sei das auch kein Problem. Aufwendig und problematisch für die Umwelt sei es aber, Waren in der Stadt zu verteilen." Wäre es dann nicht besser, gleich ganz ohne Motor auszukommen? "Schon wenn Du im Hänger nur Deine Kinder hast, zusammen vielleicht 30 bis 40 Kilogramm schwer, dazu noch ein paar Einkäufe und Du auch noch bergauf fahren musst - es ist viel leichter mit einem Motor als Unterstützung."
Insgesamt habe er vielleicht schon 150 000 Euro in das Projekt gesteckt
Dass er nun statt des Cargobikes ein Fatbike gebaut hat, lässt sich schnell erklären: Es zieht nicht nur viel mehr Aufmerksamkeit auf sich, es lässt sich auch leichter verwirklichen als ein Lastenfahrrad. Die Kosten seien aber auch so schon "super-big", sagt er. Die eigenen Aktien sind längst verkauft, die Oma gab Geld und auch die Bank steuerte einen großen Kredit bei. "Insgesamt habe ich vielleicht schon 150 000 Euro" in das Projekt gesteckt, sagt Benjamin.
Derzeit verhandelt er mit einem Wagnisfinanzierer, denn viele Aufgaben stehen noch an. Am liebsten würde er eine Art Erlebniswelt schaffen, wo die Kunden ihre Räder abholen können. Räume dafür hat er schon gefunden, unterschrieben sind die Verträge aber noch nicht. Was er plant, hat Benjamin bei BMW in anderer Form schon umgesetzt. Er hat Bilder vor Augen, weiß, wie etwas zu funktionieren hat. Aber er kennt auch den großen Unterschied zu BMW: "Bei der Firma wird man gut bezahlt, abends fährt man nach Hause und - it's done. Aber hier geht es um die Existenz. Darum sagt meine Frau immer: Mach es, aber bau keinen Scheiß."