Süddeutsche Zeitung

Währungen:Warum der Euro so tief steht wie seit 20 Jahren nicht

Dollar und Euro sind inzwischen fast gleich viel wert. Und der Verfall der Gemeinschaftswährung kann nach Ansicht von Experten durchaus noch weitergehen. Dafür gibt es ein paar Erklärungen.

Von Nikolaus Piper

Seit Wochen nähern sich die Kurse an den Finanzmärkten einer symbolträchtigen Schwelle. Am Donnerstag war es dann fast so weit. um die Mittagszeit zahlten Händler für einen Euro 1,0017 Dollar. Faktisch ist damit die Parität zwischen beiden Währungen erreicht. Ein Euro gleich ein Dollar - so billig war das europäische Geld seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr. Zum letzten Mal hatte es diese Parität am 4. Dezember 2002 gegeben, als ein Euro für 1,0003 Dollar zu haben war. Aber das waren ganz andere Verhältnisse. Die Gemeinschaftswährung war nach ihrer Einführung noch jung und kaum krisenerprobt. Im Jahr nach der Einführung war der Kurs sogar erst einmal kräftig gesunken und hatte am 25. Oktober 2000 seinen Tiefststand von 0,8270 Dollar erreicht. Erst seit dem 1. Januar 2002 konnten die Verbraucher die neue Währung überhaupt anfassen und mit Euro-Banknoten und -Münzen bezahlen. Vor diesem Hintergrund war die Parität auch Ausdruck wachsenden Vertrauens in das neue Geld. Bis zur Finanzkrise stieg der Wechselkurs stetig, um am 15. Juli 2008 sein Allzeithoch von 1,6038 Dollar zu erreichen.

Im Juli 2022 allerdings ist die Situation eine völlig andere als 2002, auch wenn die Zahlen ähnlich aussehen. Jetzt ist die Parität nicht eine Marke auf einem längerfristigen Kursanstieg des Euro, sondern im Gegenteil, vorläufiger Höhepunkt eines schon viele Monate dauernden Kursverfalls, einer Abwertung, die nach Meinung von Analysten durchaus noch weitergehen kann.

Ein wichtiger Unterschied zwischen 2002 und 2022 ist die Inflation. Zu Beginn des Jahrzehnts galt Preisstabilität als fast selbstverständlich in den westlichen Industrieländern. Einige Ökonomen fürchteten sogar das Gegenteil, also eine Deflation, bei der die Preise sinken, was zu einer Lähmung der gesamten Wirtschaft hätte führen können. Die große Deflation blieb zwar aus, stabile Preise und eine Inflationsrate von unter zwei Prozent erschienen jedoch als normal. Fiel die Rate noch tiefer, dann war das für die Notenbanken ein Grund zur Besorgnis und nicht zur Freude.

Heute erscheint all dies wie Geschichten aus fernen Zeiten. Mittlerweile leiden sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Euro-Zone unter Inflationsraten von deutlich über acht Prozent. In Deutschland waren es im Juni 7,6 Prozent. Solche Werte hatte es zuletzt vor mehr als 40 Jahren geben, als die Welt mit den Spätfolgen der Ölkrise von 1973/74 zu kämpfen hatte.

Das neue inflationäre Zeitalter setzte mit der Corona-Pandemie ein. Genauer: im Jahr 2021, als die ganzen Regierungsprogramme zur Linderung der Corona-Folgen die Nachfrage stützten, während gleichzeitig viele Unternehmen wegen unterbrochener Lieferketten Lieferschwierigkeiten bekamen und das Angebot unter Druck geriet. Die Notenbanken - die amerikanische Fed ebenso wie die Europäische Zentralbank (EZB) - wurden von dem Inflationsschub zunächst kalt erwischt. Viele Experten hielten die Preissteigerungen damals zunächst noch für ein nur vorübergehendes Phänomen. Kurz zuvor hatte Fed-Chef Jerome Powell die Weltwirtschaft sogar noch darauf vorbereitet, dass der Leitzins in den USA sehr lange bei null bleiben würde. Inflation war seinerzeit schlicht kein Thema.

Trotzdem war es Powell, der schließlich die Wende in der Geldpolitik einleitete. Im Februar dieses Jahres begann die Fed damit, die Zinsen zu erhöhen, und zwar kräftig. Im Juni hob sie den Leitzins, die "Federal Funds Rate", um 0,75 Punkte an, ein ungewöhnlicher Schritt, mit dem an den Märkten niemand gerechnet hatte. Aus den Protokollen der letzten Sitzung des Offenmarktausschusses der Fed - sie wurden an diesem Mittwoch veröffentlicht - lässt sich herauslesen, dass Ende Juli eine weitere Zinserhöhung um 0,75 Punkte bevorsteht. Die Fed scheint bereit, notfalls sogar eine Rezession zu riskieren, um die Inflation zu brechen.

Die EZB hat zu spät und zu zögerlich auf die Inflation reagiert, sagt Ifo-Chef Fuest

In Europa ist die Lage ganz anders, und das ist eine wichtige Erklärung für den niedrigen Wechselkurs der Gemeinschaftswährung. Die europäische Wirtschaft ist schwächer als die amerikanische. Deshalb zögerte die EZB lange, ehe sie es wagte, von der Förderung des Wachstums auf Inflationsbekämpfung umzuschalten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Sorge, dass höhere Zinsen in hoch verschuldeten Mitgliedstaaten wie Italien eine neue Schuldenkrise auslösen könnten. Jetzt ist immerhin bei der nächsten Sitzung der EZB am 21. Juli mit einer moderaten Zinserhöhung um 0,25 Punkte zu rechnen. Dazu sagt Clemens Fuest, Chef des Münchner Ifo-Instituts: "Die Euro-Schwäche hat damit zu tun, dass die EZB spät und zögerlich auf die Inflation reagiert, aber auch mit dem Ukraine-Krieg, dessen Folgen vor allem auf den Energiemärkten Europa stärker treffen als andere Teile der Welt." Vor allem aber sei die wirtschaftliche Dynamik in den Vereinigten Staaten höher. Insofern reflektiere die Fast-Parität eher die Stärke des Dollars als allein die Schwäche des Euro.

Tatsächlich ist Russlands Krieg in der Ukraine eine wesentliche Ursache für die Euro-Schwäche. Die Abhängigkeit Europas von russischen Öl- und Gaslieferungen ist ein kaum kalkulierbarer Risikofaktor für den Kontinent. Was ist, wenn russische Erdgaslieferungen ausbleiben, wenn Fabriken stillgelegt werden müssen und die Menschen im Winter frieren? Solche Risiken schlagen sich auch in Wechselkursen nieder.

Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund, dass Deutschland im Mai 2022 zum ersten Mal seit vielen Jahren ein Defizit im Außenhandel hinnehmen musste. Eigentlich hatte sich die Welt an das Gegenteil gewöhnt. Wenn überhaupt, dann waren die deutschen Überschüsse ein Problem, besonders für amerikanische Politiker im Wahlkampf. Jetzt hat sich das Bild grundlegend geändert. Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes hat Deutschland im Mai für eine Milliarde Euro mehr importiert, als es exportiert hat. Dahinter steht keine plötzliche Exportschwäche der Bundesrepublik, ausschlaggebend war ein ungewöhnlich starker Anstieg der Importe, um 27,8 Prozent gegenüber Mai 2021. Dieser Anstieg war fast ausschließlich auf steigende Energiepreise zurückzuführen. Hauptnutznießer dieser Entwicklung dürfte Russland sein.

Die große Frage ist: Wie geht es nun weiter? Angesichts des Krieges in der Ukraine sind alle Aussagen noch viel spekulativer als in normalen Zeiten. Bankanalysten sind extrem vorsichtig. George Saravelos, Analyst bei der Deutschen Bank in London, hält einen Kurs von 0,95 bis 0,97 Dollar noch in diesem Jahr für möglich. Zwei Faktoren könnten eine Wende in der Wechselkursdynamik herbeiführen: Dass die Fed bei ihrer Politik der Geldverknappung eine längere Pause einlegt. Und/oder ein Ende der Feindseligkeiten in der Ukraine. "Wenn Russland über den Sommer seine Gaslieferungen (teilweise) aufrechterhält, wird dies nicht reichen, da das Risiko eines Shutdown im Winter bestehen bliebe."

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