Diskussion um Keynes:Liebesleben eines Ökonomen

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John Maynard Keynes: britischer Volkswirtschaftler und Diplomat (Foto: SCHERL)

"Verweichlichtes Mitglied der Gesellschaft": Harvard-Historiker Niall Ferguson blamiert sich mit Aussagen über das Denken und Liebesleben des John Maynard Keynes. Dessen sexuelle Orientierung ist ebenso umstritten wie sein angebliches Desinteresse an der Zukunft.

Von Nikolaus Piper

Es war eine der üblichen pseudowissenschaftlichen Weisheiten über Homosexuelle. Aber sie kam eben nicht von irgendwem, sondern von dem renommierten Harvard-Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson. Der große Ökonom John Maynard Keynes (1883 bis 1946), so sagte Ferguson auf einer Investorenkonferenz in Carlsbad (Kalifornien), habe gar kein Interesse an der Zukunft haben können, da er ja schwul gewesen sei und keine eigenen Kinder gehabt habe. Keynes sei ein verweichlichtes Mitglied der Gesellschaft gewesen, das mit seiner Frau über Poesie diskutierte statt sich mit der Erzeugung von Nachwuchs zu beschäftigen.

So jedenfalls stellte das Magazin Financial Advisor Fergusons Auftritt in Carlsbad dar. Ein Proteststurm brach los, und Ferguson entschuldigte sich in einem Blog wortreich und einigermaßen glaubwürdig bei Keynes. Seine Äußerungen seien "ebenso dumm wie taktlos" gewesen.

Trotzdem bleibt die Posse politisch relevant, denn Ferguson bediente nicht nur Vorurteile über Homosexuelle und Kinderlose. Er unterstellte, wie viele der intellektuellen Gegner von Keynes, dass der Ökonom nur am kurzfristigen Erfolg seiner Politik interessiert gewesen und dass ihm die Zukunft egal gewesen sei. Dieses Vorurteil ist so hartnäckig und politisch wirksam wie falsch. Es gründet sich auf eines der berühmtesten Keynes-Zitate: "Langfristig sind wir alle tot." Tatsächlich war dieser Satz niemals gemeint gewesen als Aufforderung, die Zukunft zu ignorieren, sondern im Gegenteil, als Aufruf, konkrete Lösungen anzubieten.

Keynes setzte sich mit den langfristigen Folgen der Politik auseinander

Der Satz steht im "Traktat über Währungsreform" von 1923, in dem Keynes leidenschaftlich gegen die Rückkehr Großbritanniens zum Vorkriegs-Goldstandard wettert. Inhaltlich hatte Keynes nach Meinung der meisten heutigen Historiker recht, methodisch war er noch ganz in Einklang mit der neoklassischen Orthodoxie - so etwas wie "Keynesianismus" gab es also noch gar nicht. Keynes wollte einfach, dass Ökonomen relevant blieben. Das wird deutlich, wenn man das ganze Zitat liest: "Aber die lange Frist ist ein schlechter Führer in Bezug auf die laufenden Dinge. Auf lange Sicht sind wir alle tot. Die Ökonomen machen es sich zu leicht und machen ihre Aufgabe zu wertlos, wenn sie in stürmischen Zeiten uns nur sagen können, dass, nachdem der Sturm lang vorüber ist, der Ozean wieder ruhig sein wird."

Keynes interessierte sich sehr wohl für die Zukunft und setzte sich mehrfach explizit und folgenreich mit den langfristigen Folgen politischer Entscheidungen auseinander. Berühmt wurde er 1920 mit seiner vernichtenden Kritik des Versailler Friedensvertrages ("Die ökonomischen Folgen des Friedensvertrages"). Im Jahr 1930, mitten in der Weltwirtschaftskrise, schrieb er einen Essay über die "Wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkel", in dem er untersucht, wie künftige Generationen die Plage ökonomischer Knappheit überwinden könnten. Und in seiner Theorie spielen Erwartungen der Investoren für die Zukunft eine zentrale Rolle. "Die Rolle des Geldes", so heißt es in Keynes' Hauptwerk, der Allgemeinen Theorie, "besteht im wesentlichen darin, dass es eine Verbindung zwischen der Gegenwart und der Zukunft herstellt."

Auch Keynes' praktisch-politische Arbeit gehört zu dem Bild. Während des Zweiten Weltkrieges war Keynes der heimliche Finanzminister Großbritanniens. Wie viele führende Köpfe in London ahnte er, dass der Krieg gegen Deutschland selbst bei einem Sieg das Ende des Britischen Weltreiches bedeuten würde. In Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten versuchte er daher, nicht immer geschickt, so viel an britischem Einfluss wie möglich für die Zeit nach dem Krieg zu retten. Auch Keynes' Verhalten auf der Währungskonferenz von Bretton Woods 1944 ist nur zu verstehen als Strategie, das Vereinige Königreich nach dem Krieg zahlungsfähig zu halten. Wie immer man seinen Erfolg beurteilen mag, Keynes handelte damals als Ökonom mit extrem langfristiger Perspektive.

Richtig ist, dass Politiker in der Praxis Keynes' Theorie gerne als Ausrede dafür benutzen, sich ohne Rücksicht auf die Zukunft zu verschulden. Aber zu dem Zweck braucht man Keynes gar nicht. Der Marsch in den amerikanischen Schuldenstaat begann unter Ronald Reagan, der von Anti-Keynesianern beraten wurde. Bill Clinton, dessen Wirtschaftsteam keynesianisch geprägt war, schaffte es dagegen, Haushaltsüberschüsse zu erwirtschaften.

Liebesbriefe des Paares sind erhalten

Es bleibt Keynes' Homosexualität. Seine sexuelle Orientierung ist insofern relevant für seine Theorie, als durch sie sein Nonkonformismus gesellschaftlich quasi vorgegeben war. Er gehörte dem avantgardistischen Bloomsbury-Kreis um die Schriftstellerin Virginia Woolf an, dessen Mitglieder sich bewusst gegen alle gesellschaftliche Konventionen stellten. Die große Liebe in Keynes' Lebens war der Maler Duncan Grant. Trotzdem verliebte er sich 1921 in die russische Balletttänzerin Lydia Lopokova und heiratete sie 1925. Anders als Ferguson andeutet, war dies alles andere als eine platonische Pro-Forma-Ehe. Erhalten sind Liebesbriefe des Paares, die an erotischer Direktheit nichts zu wünschen übrig lassen. Schließlich wurde Lydia 1927 schwanger, verlor ihr Baby aber.

Offenkundig haben John Maynard Keynes und seine Frau in ihrem Schlafzimmer noch andere Dinge gemacht, als sich über Poesie zu unterhalten, wie Ferguson behauptet.

© SZ vom 07.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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