Digitalisierung:Wenn Maschinen miteinander sprechen

Schunk - Computerhand

Wird künftig jeder Handgriff per Computer gesteuert? Industrieversicherer müssen sich jetzt mit solchen Fragen beschäftigen.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Die Vernetzung von Produktions- und Lieferketten schafft neue und komplexe Risiken. Für die Versicherungsbranche sind die Herausforderungen enorm, aber es gibt auch Chancen.

Von Christian Bellmann

Intelligente Maschinen koordinieren selbständig Produktionsprozesse und Warenströme über Unternehmens- und Landesgrenzen hinweg, ohne dass Menschen involviert sind. Fertigungsstraßen setzen sich flexibel zusammen, um auf individuelle Kundenwünsche zu reagieren. Montageroboter warten sich selbst und warnen vor Defekten. In voll digitalisierten Logistikzentren kümmern sich autonom fahrende Gabelstapler und Transporter um die Einlagerung und den Versand von Produkten. Was nach verrückter Zukunftsmusik klingt, wird langsam Realität in manchen deutschen Industrieunternehmen.

Die Digitalisierung und das "Internet der Dinge" haben den Grundstein für die vierte industrielle Revolution gelegt - nach dem Einzug der Wasser- und Dampfkraft im 18. Jahrhundert, der Massenfertigung und Elektrizität im 19. sowie der Automatisierung im 20. Jahrhundert. Inzwischen ist die "Industrie 4.0", wie die deutschen Maschinenbauer werbewirksam die Vernetzung von Maschinen und Abläufen in Produktions- und Lieferketten getauft haben, im Gange. Die Chancen sind enorm. Allein die Unternehmen in Deutschland könnten dadurch in den nächsten Jahren einen zusätzlichen Umsatz von über 30 Milliarden Euro pro Jahr erzielen, erwartet die Strategieberatung PwC Strategy&.

"Industrie 4.0 bedeutet ein unmittelbares Zusammenwirken verschiedener Risiken in Echtzeit."

Für die Versicherer ist die Entwicklung ein zweischneidiges Schwert. Einerseits nimmt die Bedeutung des Menschen als Risikofaktor ab. "Frequenzschäden dürften immer seltener werden", erwartet Stefan Sigulla, Vorstandsmitglied beim Industrieversicherer HDI Global. Das sind Versicherungsschäden, die regelmäßig von Menschen verursacht werden, gering bis mittelschwer ausfallen und deshalb für die Versicherer gut kalkulierbar sind. Andererseits birgt die Entwicklung große Gefahren. "Industrie 4.0 bedeutet ein unmittelbares Zusammenwirken verschiedener Risiken in Echtzeit", sagt Sigulla. Risiken verändern sich und machen die Unternehmen an anderen Stellen verwundbar.

Vernetzte Maschinen und intelligente Systeme spielen als Risikofaktoren eine immer größere Rolle, weil sie viele menschliche Entscheidungen übernehmen. Sie können aber nicht für Schäden haftbar gemacht werden, wenn sie falsche Teile bestellen oder fehlerhaft arbeiten oder wenn selbstfahrende Gabelstapler kollidieren. Hinzu kommt, dass Prozesse nicht nur in einer, sondern in mehreren Firmen miteinander vernetzt sind - und das weltweit. Digitalisierung und Vernetzung schaffen zudem vielfältige Möglichkeiten für Dritte, Systeme zu hacken, an Daten zu kommen und Betriebsabläufe zu manipulieren. Die Versicherer und ihre Kunden kann das im Falle eines Schadens vor große Probleme stellen. "Ursachenfindung und Schadenregulierung stellen alle Parteien vor erhebliche Herausforderungen", berichtet Yves Betz, im Vorstand der Zurich Deutschland für das Geschäft mit Gewerbe- und Industriekunden verantwortlich. Cyberangriffe seien schwer und nur mit großem technischen Aufwand nachzuvollziehen.

Auch das Risiko sogenannter Kumulschäden, der Häufung vieler Einzelschäden nach einem Ereignis, nimmt zu. So kann ein Schaden mehrere Kunden eines Versicherers auf einmal treffen, wenn sie aus derselben Branche stammen oder über den Produktionsprozess miteinander verknüpft sind. Folgenschwer sind auch Fehler bei der Übertragung von Daten und Plänen, die dazu führen, dass viele Firmen gleichzeitig defekte Produkte herstellen. Künftig könnten zunehmend mehrere Sparten eines Versicherers von einem Schaden betroffen sein, prognostiziert Betz. Während der Schaden in der eigenen Firma möglicherweise ein Fall für die Sachversicherung ist, können Drittschäden die Haftpflichtversicherung betreffen.

Besonders gefürchtet sind Betriebs- und Lieferkettenunterbrechungen. Sie haben nicht nur Umsatzeinbußen zur Folge, sondern werden schnell existenzbedrohend, weil das Verhältnis zu Geschäftspartnern und Verbrauchern oftmals nachhaltig geschädigt wird. "Durch die intensive Vernetzung und die Abhängigkeiten von Abläufen kann eine Fehlfunktion unmittelbare Auswirkungen entlang der gesamten Prozesskette haben", erläutert Zurich-Manager Betz. Das Risiko ist nicht neu, die Folgeschäden könnten im Zeitalter der Industrie 4.0 aber ein viel größeres Ausmaß erreichen als bislang. "Der Ausfall eines Elements kann Auswirkungen haben, die möglicherweise niemand in dieser Dimension erwartet", sagt Sigulla von HDI.

Entscheidend ist, dass sich Unternehmen als Teil eines weltweiten Wertschöpfungsprozesses begreifen. Um Schäden zu verhindern, ist es für sie und die Versicherer wichtig, die Risiken zu verstehen, die von Schnittstellen zu anderen Unternehmen ausgehen. Voraussetzung ist, dass Unternehmen ihren Versicherern tiefe Einblicke gewähren und beide Seiten ständig in einem intensiven Austausch stehen.

Durch die sich wandelnden Risiken ändert sich auch die Nachfrage nach Versicherungsschutz. "Die Unternehmen wollen heute keine statischen Einzelrisiken mehr versichern, sondern gesamte Prozesse", sagt Andrea Beecken, Haftpflichtspezialistin beim Makler Marsh. "Den Standardkunden, der sich mit einem Standardprodukt zu einem Standardpreis versichert, gibt es heute nicht mehr." Die Versicherer müssen sich daher noch stärker als bisher auf individuelle Kundenwünsche einstellen. Viele Versicherungskonzepte, die Makler mit Kunden erarbeiten, haben die Anbieter in dieser Form noch nicht im Programm. "Die Versicherer zeigen aber große Bereitschaft, Lösungen zu kreieren", berichtet Thomas Olaynig, Mitglied der Marsh-Geschäftsleitung. Ohnehin sei die Branche bei Innovationen besser als ihr Ruf.

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