Die Distanz zwischen Neuland und Entwicklungsland beträgt 1300 Tage. Das ist die Zeit, die verstrichen ist, seit Angela Merkel verkündete: "Das Internet ist für uns alle Neuland." Der Satz klebt seitdem an ihr. Weil die vorsichtig naive Neuland-Kanzlerin aber lieber ein besseres digitales Image hätte, gibt sie dreieinhalb Jahre später die Mahnerin, die digitale Geschwindigkeit einfordert: "Wenn das das Tempo der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sein wird", sagte sie diese Woche mit Blick auf das Gestümper um die elektronische Gesundheitskarte, "dann werden wir nicht sehr erfolgreich sein, sondern in Kürze zu den Entwicklungsländern weltweit gehören".
Eine solche Drohkulisse gehört zu den beliebteren Tricks in der Digitalisierungsdebatte. Er fordert so eindrücklich "Jetzt muss aber wirklich was passieren", dass sich niemand mehr traut zu fragen: "Ja was denn?" und vor allem: "Warum überhaupt?" Wenn man diese Fragen aber nicht stellt, erkennt man auch nicht, warum es langfristig ein volkswirtschaftliches Problem ist, wenn Deutschland in Sachen Digitalisierung abgehängt wird.
Nicht einfach angstgetrieben losrennen
Die Gesundheitskarte ist dafür ein gutes Beispiel. Denn ein Land, das seine Verwaltung nur schleppend digitalisiert, seine Bildungsreinrichtungen kaum vernetzt und seine Industrie mit dem Methoden des vergangenen Jahrhunderts betreibt, verliert den Anschluss. Das ist wirtschaftlich bedrohlich, wenig effizient und führt am Ende dazu, dass das grundlegende Verständnis und darauf aufbauende Innovationen fehlen.
Digitalisierung:Merkel: Deutschland droht, digitales Entwicklungsland zu werden
Wenn das Tempo bei der Digitalisierung so weitergeht, sieht die Kanzlerin für Deutschland schwarz. Schuld daran sei ein "überzogener Datenschutz".
Wer das ändern will, sollte aber nicht einfach angstgetrieben losrennen, sondern muss erst mal ein Gefühl für die Richtung entwickeln. Dafür benötigt das Land mindestens vier grundlegende Updates, die uns vor allem darauf vorbereiten, dass der Wandel nicht mehr aufhören wird.
1. Wir brauchen eine andere Haltung zur Zukunft
Wer sich in diesem Land mit der Digitalisierung befassen will, findet von einem ganz viel: Meinung! Objektive Beschreibungen dessen, was genau sich da eigentlich gerade verändert, muss man länger suchen. Eine der besseren Erklärungen findet sich in dem nur noch antiquarisch verfügbaren Buch "Total Digital" aus dem Jahr 1995. Darin hat der US-Forscher Nicholas Negroponte schon damals sehr anschaulich auf den Punkt gebracht, wie der Wandel von den Atomen zu den Bits dazu führen wird, dass immer mehr gesellschaftliche Bereiche zu Software werden.
Software vereinfacht Vermittlungsprozesse, wie es der Fahrdienst Uber gerade in der Taxibranche vormacht. Software verändert durch Selbstvermessung die Möglichkeiten der Medizin, greift in die Prinzipien von Banken und Versicherungen ebenso ein wie in jene der Verlags- oder Automobilbranche. Software führt dazu, dass die Massenware, die in den Fabriken des 20. Jahrhunderts erstellt wurde, um personalisierbare Produkte ergänzt wird. Software löst einen Wandel von der Lautsprecher- zur Kopfhörerkultur aus, der den Durchschnitt als dominantes gesellschaftliches Prinzip ablöst. Und alle diese Veränderungen sind so grundlegend, dass sie große Emotionen und starke Meinungen hervorrufen.
Ängste und Begeisterung sind die bestimmenden Äußerungen zur digitalen Zukunft. Entweder wird der Untergang des Abendlandes beschrieben, weil Kinder zu viel mit Smartphones in Kontakt kommen - oder vergleichbare Schreckensszenarien werden bemüht, wenn genau das viel zu wenig geschieht.
Dabei sind sich die Skeptiker mit den Euphorikern erstaunlich einig darin, die Zukunft vorhersagen zu können. Sie pusten ihre Prognosen so lautstark heraus, dass eine ehrliche Ratlosigkeit und damit ja auch Offenheit der Zukunft gegenüber kaum zu Wort kommt. Optimisten und Pessimisten bewerten, bevor sie verstehen - und das führt zu einem unguten Verhältnis zur Zukunft. Notwendig wäre eine Haltung zum Morgen, die zwischen Pessimismus und Optimismus beheimatet ist und Zukunft zunächst einmal als gestaltbar erkennt.
2. Zukunftstechnologien gehören auf den Lehrplan
Wer die Zukunft hoffnungsvoll gestalten will, muss anerkennen: Die einfachen Antworten, die gerade Konjunktur haben, taugen nicht als nachhaltige Vorgabe. Das gilt bei Fragen der Zuwanderung ebenso wie in Sachen Digitalisierung. Einfache Antworten sollen vor allem von der Angst ablenken, die Veränderung auslösen kann. Diese Angst kann man zum Beispiel spüren, wenn der Präsident des Lehrerverbandes lautstark den Vorschlag ablehnt, deutsche Klassenzimmer konsequent mit kabellosem Internet auszustatten. Josef Kraus nennt dieses Vorhaben "totale Zwangsdigitalisierung" und trägt damit auch Schuld daran, dass Andersmeinende ihre Gegenkonzepte ähnlich lautstark in die Welt rufen - weil sie glauben, sonst kein Gehör zu finden. Vom "digitalen Mittelalter" schrieb die Wirtschaftswoche unlängst und forderte die Einführung von Programmieren als Schulfach.
Beide Seiten tragen ihre Ansichten vor, aber in Wahrheit wenig zu dem bei, was der Soziologe Armin Nassehi als Lösung für die kompliziert gewordene Welt vorschlägt: die Fähigkeit zu vernetztem Denken, "das mit Instabilitäten rechnet und Abweichungen liebt, das Komplexitäten nicht vermeidet oder wegredet, sondern versteht und entfaltet und sie mit ihren eigenen Mitteln schlägt". Dazu zählt eben auch, Widersprüche auszuhalten und die Offenheit aufzubringen, immer wieder neue Wege zu suchen.
Die Generation, die Lösungen für die Probleme der Gegenwart finden könnte, lebt heute bereits: Sie wird in Klassenräumen ohne Internet unterrichtet und ist mit Vorbildern konfrontiert, die ihre Ideen aus dem vergangenen Jahrhundert ziehen. Um die Schüler der Gegenwart auf die Zukunft vorzubereiten, muss man ihnen aber die notwendigen Technologien zur Verfügung stellen. Denn: Nur durch beständiges Üben wird man besser und findet neue Wege. Wie soll man die Herausforderungen meistern, vor die das dauerpräsente Smartphone die Gesellschaft stellt, wenn es in der Schule verboten ist und Schüler auch daheim kaum Vorbilder finden, die zeigen, wie sie es sinnvoll einsetzen können?
Wir brauchen deshalb nicht nur an Schulen einen angstfreien Umgang mit Zukunftstechnologien, wie es kleine Projekte wie der "Calliope mini" gerade vormachen. Mit Hilfe dieser Platine in der Größe einer Scheckkarte sollen alle Schülerinnen und Schülern der dritten Klasse erste Erfahrungen im Programmieren machen. "Nur wer weiß, was Daten wirklich bedeuten und wie wir uns durch clevere Anwendungen selbst schützen können, wird sich selbstverständlich und ohne Angst in der digitalen Zukunft bewegen." So steht es auf der Webseite des staatlich geförderten Projekts, das noch bis zu diesem Wochenende Geld für diese Form der digitalen Bildung sammelt. Man kann diesen Satz übrigens nicht nur mit Blick auf Grundschüler lesen, sondern auch auf die politische Elite des Landes.
Ein Neuland-Update schafft man eben nicht mit Schreckensszenarien, die immer nur neue Angst schüren, sondern vor allem durch Investition in die Fähigkeiten der Lehrer sowie in die Ausstattung der Schulen. Bildung ist das beste Mittel gegen Angst - und die Voraussetzung für die Lösung der Probleme von morgen.
Das gilt auch für die Debatte über Falschmeldungen in sozialen Netzwerken und über Hackerangriffe auf Wahlen. Wer die zugrunde liegenden Mechanismen nicht kennt, ist anfällig für Panikmache. Medienkompetenz zu fördern, ist aber ein langfristiges Projekt, das nicht so schöne Macher-Schlagzeilen erzeugt wie die irrigen Pläne des Wahrheits-, äh, Innenministers, ein Abwehrzentrum gegen Falschmeldungen einrichten.
3. Wir brauchen ein zweites Bildungssystem, das auch Erwachsene schult
Wenn man anerkennt, dass schon Grundschüler konsequent im Umgang mit Zukunftstechnologien geschult werden sollten, dann muss man auch anerkennen, dass diese Grundschüler im nächsten Schritt zu Lehrern ihrer Eltern werden. Denn auch diejenigen, die sich als ausgebildet empfinden, sehen sich in der digitalen Welt beständig mit Neuem konfrontiert, das sie nicht kennen, geschweige denn beherrschen. Die Soziologin Jutta Allmendinger empfiehlt deshalb "eine neue Aufteilung der bisher üblichen drei Blöcke Ausbildung, Arbeit, Ruhestand". Auch ältere Generationen brauchen die Bereitschaft zum Lernen. "Wir müssen ein zweites Bildungssystem aufbauen, das wir nach etwa 15 Jahren Erwerbstätigkeit wieder besuchen", so Allmendinger. Und auch für dieses zweite Bildungssystem muss gelten, was für die klassische Schule gilt: Es sollte das Rüstzeug für die Zukunft vermitteln.
Damit dieser neue Generationenvertrag des Lernens gelingen kann, verändert sich aber nicht nur die Rolle der Eltern. Auch die gesellschaftlichen Autoritäten müssen sich neu definieren. Wer heute als Lehrer, Chefin oder Politiker glaubwürdig auftreten will, kann nicht länger Autorität auf dem Eindruck aufbauen, alles zu überblicken und auf jedes Detail eine Antwort zu haben. Digitalisierung beschränkt sich nicht auf Smartphones und Computer. Digitalisierung verändert auch die Art, wie Menschen zusammenarbeiten. Der allwissende Unternehmens- oder Staatenlenker des 20. Jahrhunderts wirkt in der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts wenig glaubwürdig. Autorität begründet sich zunehmend durch Authentizität, was zum Beispiel auch die Fähigkeit einschließt, Fehler zuzugeben und aus diesen zu lernen. Digitalisierte Unternehmungen aus allen gesellschaftlichen Bereichen haben bereits Umfelder geschaffen, in denen sich eine solche Kultur des Lernens entwickeln kann. Sie verlangt nicht nur die Bereitschaft zum beständigen Lernen, sondern auch eine neue Führungskultur.
4. Digitalisierung gehört an den Kabinettstisch
Wie kompliziert der Wandel ist, konnte man Ende des vergangenen Jahres sehen, als der SPD-Politiker Martin Schulz eine sogenannte Digitalcharta auf den Weg brachte. Eine Gruppe klassischer Autoritätsvertreter formulierte einen Vorschlag für einen Grundrechtskatalog für die digitale Welt, der anschließend im EU-Parlament diskutiert wurde. Ein sinnvoller und richtiger Ansatz eigentlich, in der anschließenden Debatte im Netz haben aber nur wenige der Initiatoren Stellung bezogen. Damit eine digitale Zivilgesellschaft tatsächlich gelingen kann, müssen sich auch die Eliten des Landes beteiligen. Sie müssen sich der Debatte stellen, sie müssen bereit sein, Neues zu lernen und Gelerntes anzupassen. Der US-Autor Clay Shirky nennt diesen Prozess "Unlearning".
Wenn der Kanzlerin tatsächlich daran gelegen ist, das Tempo der Digitalisierung in diesem Land zu erhöhen, hätte sie selbst die besten Möglichkeiten dazu: indem sie dazulernt und so zum Vorbild wird.
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Auf diesen Prozess setzen auch immer mehr Wirtschaftsunternehmen. Sie behandeln das Thema auf Vorstandsebene und betrauen einen so genannten Chief Digital Officer (CDO) mit der Aufgabe, die notwendigen Updates durchzuführen. Vermutlich wäre ein solcher Schritt auch für die nächste Bundesregierung notwendig. Die große Koalition hatte ein Internet-Ministerium noch abgelehnt und stattdessen dem Verkehrsministerium den Zusatz "digitale Infrastruktur" geschenkt. Da man sich dort aber vor allem für die Nationalität von Autobahnbenutzern interessiert, sollte man dem Maut-Minister Dobrindt das Thema so schnell wie möglich wieder wegnehmen und es stattdessen in einem echten Internet-Ministerium bündeln. Die Digitalisierung sollte den gleichen Stellenwert haben wie andere Querschnittsthemen, etwa Umweltschutz: Sie gehören im Rang eines Ministeriums an den Kabinettstisch.
Solange dies nicht erreicht ist, muss die Kanzlerin auch nicht an anderer Stelle aufs Tempo drücken. In einem Betriebssystem auf dem Computer lassen sich bestimmte Programme bekanntlich nur installieren, wenn dieses auf dem neusten Stand ist. Gleiches gilt für die Digitalisierung in diesem Land. Man sollte nicht unvorbereitet losrennen - sondern erst die nötigen Voraussetzungen schaffen.
Das gilt für das Land im Ganzen, aber auch für jeden seiner Bürger. Vorgefasste Meinungen bringen uns nicht weiter. Lernen ist immer ein guter Anfang.