Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:"Neue Technologien sind keine Gefahr"

Forscher untersuchen, wie der Fortschritt breiten Massen helfen kann. Voraussetzung ist, dass die Produktivität weiter steigt. In dem Fall bedroht die Robotisierung keine Arbeitsplätze.

Von Alexander Hagelüken

Vor kurzem nährte die Boston Consulting Group Sorgen, die sich viele Deutsche machen. Bis 2025 könnten acht Millionen Arbeitsplätze durch Computer und Roboter ersetzt werden, sagen die Unternehmensberater voraus. Das heiße zwar nicht, dass all diese Arbeitnehmer wirklich ihren Job verlören. Viele bräuchten allerdings Weiterbildung oder andere Beschäftigung. Die Forscher Wim Naudé und Paula Nagler setzen jetzt einen Kontrapunkt zu den Ängsten vor der Digitalisierung: Sie proklamieren, mehr technologische Innovationen könnten zu Wachstum führen, von dem die Masse der Beschäftigten profitiert.

Die Wissenschaftler räumen ein, dass die Ungleichheit in der Bundesrepublik wie in vielen Industriestaaten in den vergangenen 30 Jahren zugenommen hat. "Diese Befunde deuten darauf hin, dass das Wirtschaftswachstum der letzten Jahrzehnte - anders als etwa zu Zeiten des Wirtschaftswunders - nicht mehr zu einer Abnahme von Ungleichheit führt." Dafür machten zuletzt Organisationen wie IWF und OECD teilweise den technischen Fortschritt in seiner aktuellen Form verantwortlich. Er habe die oberen Einkommen deutlich stärker steigen lassen als den Verdienst etwa der Mittelschicht. Der US-Ökonom David Autor spricht von der "Polarisierung" des Arbeitsmarkts.

Naudé und Nagler argumentieren in einer unveröffentlichten Studie für die Bertelsmann-Stiftung, dass Innovationen im Gegenteil der breiten Masse helfen - jedenfalls dann, wenn sie die Produktivität ihrer Arbeit erhöhen. Die Produktivität steigt zum Beispiel, wenn Arbeiter einer Fabrik durch bessere Maschinen, Qualifizierung oder Organisation der Abläufe mehr Autos herstellen als im Jahr zuvor. Mehr Produktivität führt im Regelfall zu mehr Lohn. Doch die Arbeitsproduktivität habe in Deutschland seit 2004 kaum zugenommen, so Naudé und Nagler, im EU-Vergleich falle das Land zurück. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft spricht in einer aktuellen Studie von einer "ausgeprägten Schwäche" - und das limitiert die Löhne, also das Wohlergehen breiter Massen.

Flexibilität und lebenslanges Lernen sind wichtiger als Spezialkenntnisse

Naudé und Nagler, die an der Universität Maastricht lehren, nehmen den technischen Fortschritt in Schutz: Hätte er in den vergangenen Dekaden massenhaft Stellen wegrationalisiert, hätte die Produktivität der verbliebenen Jobs zunehmen müssen - doch die stagniere ja. Diese These ist umstritten. Denn die Anpassung verläuft oft anders: Wer wegrationalisiert wird, weicht auf wenig produktive, schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs aus. Er wird Paketbote oder geht ins Call Center. Dieser Mechanismus kann beide Phänomene erklären: stagnierende Produktivität und zunehmende Ungleichheit der Einkommen.

Es lohnt aber in jedem Fall, die weitere Argumentation der Forscher zu betrachten. Denn sie erklären die stagnierende Produktivität vor allem mit mangelnden Innovationen - und fragen, ob Deutschland den Anschluss verliert. Dafür sehen sie eine ganze Reihe von Anzeichen und Ursachen. Wurde vor 30 Jahren noch jedes zweite angemeldete Patent genehmigt, sei es heute nur noch jedes vierte - Indiz für weniger Originalität. In den USA werde mehr in Risikokapital investiert und der Abstand nehme zu. Zudem sei die Zahl hoch qualifizierter Wissenschaftler in Forschung und Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren deutlich schwächer gewachsen als in Skandinavien oder Kanada. Auch wirke der Abgang akademischer Koryphäen in der Nazi-Zeit immer noch nach. Und: Gewerkschaften sorgten dafür, dass Innovationen im ganzen Betrieb verbreitet würden, weil sie die Jobs in allen Betriebsteilen sichern wollen. Die Gewerkschaften seien zuletzt aber geschwächt geworden.

Naudé und Nagler machen eine ganze Reihe Vorschläge, wie sich Innovationen und damit Produktivität und Löhne steigern liessen. Deutschland dürfe nicht nur Prozesse verbessern, sondern müsse in neue Ideen in den Schlüsselindustrien investieren. Arbeitnehmer sollten auch durch andere Qualifikation ermutigt werden, in Zukunftsbranchen zu wechseln. Alle Schichten bräuchten Zugang zu besserer Bildung. Und: Die Universitäten seien zu spezialisiert. Für die künftige Arbeitswelt sei es besser, Flexibilität und lebenslanges Lernen zu fördern als sich nur auf die Vermittlung von Spezialkenntnissen zu konzentrieren. Übersetzt heißt das: Deutschland hat tolle Ingenieure. Aber für die digitale Ära reicht das nicht.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2017
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