Die Symptome sind besorgniserregend: Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit in Abhängigkeit von einem in Wahrheit höchst bedrohlichen - ja körperlich schädlichen - Phänomen. Es verbreitet sich über Endgeräte, die überall präsent sind und wird über ein Netz auch in abgelegene Teile des Landes getragen. Niemand kann sich ihm entziehen, mehr noch: Es wurden sogar trag- und aufladbare Varianten erfunden, um es auch dort nutzen zu können, wo Kabel nicht hinkommen. Doch trotz der offensichtlichen Gefahren drückt sich die Gesellschaft um eine ernsthafte Debatte über die Folgen dieses bedrohlichen Phänomens.
Die Rede ist von der Elektrizität.
Kein einziges Buch in der Sachbuch-Hitparade warnt vor der Abhängigkeit von Elektrizität, in die sich die Gesellschaft klaglos fügt. Kein alternder Professor lobt die geistesgeschichtliche Bedeutung des warmen Kerzenscheins im Vergleich zum kalten elektrischen Licht. Keine Talkshow thematisiert die lebensbedrohlichen Folgen der unsachgemäßen Nutzung.
Anders als mit vermeintlicher Internet-Abhängigkeit lassen sich mit dem (gesellschaftlichen) Krankheitsbild der Elektrizitäts-Sucht offenbar keine Geschäfte machen. Dabei ist ein bisschen zu viel Internet weit weniger gefährlich als ein bisschen zu viel Starkstrom im Körper. Aber die Elektrizität war eben schon da, als diejenigen geboren wurden, die bisher die Debatte über die Digitalisierung bestimmen. Bestseller-Autoren wie Manfred Spitzer ("Digitale Demenz"), Harald Welzer ("Smarte Diktatur") oder der Spiegel in seiner aktuellen Titelgeschichte über Smartphones ("Der Feind in meiner Hand") kämen gar nicht auf die Idee, Alarm zu schlagen ob der Folgen, die Elektrizität für das menschliche Gehirn (elektrische Demenz) oder die Gesellschaft (smarte elektrische Diktatur) haben kann. Sie nehmen sie als selbstverständlich hin - obwohl sie in der Menschheitsgeschichte durchaus als jung und keineswegs normal, aber vor allem als nicht gerade ungefährlich angesehen werden muss.
Schon Douglas Adams kannte den Reflex gegen das Netz
Richtig spannend finden die Menschen aber immer nur die Erfindungen, die auf den Markt kamen, bis sie selber etwa 30 Jahre alt sind. Was hingegen entsteht, nachdem man sich gesellschaftlich verortet hat, gilt Menschen seit jeher als bedrohlich und als Zeichen für den anstehenden Untergang der Kultur. Das Internet und die Alarm-Autoren, die vor ihm warnen, bilden da keine Ausnahme.
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Wer einen Ausweg aus dieser Falle sucht, findet ihn in einem Text aus dem Jahr 1999: Damals hatte Douglas Adams eine Prognose auf das verfasst, was wir heute in Talkshows und Sachbuchhitparaden erleben: ein Muster in der Beurteilung von Innovationen. "Auf diese Weise hat die Menschheit schon immer auf technische Neuerungen reagiert", schrieb der Science-Fiction-Autor 1999 - und so reagiere sie auch auf das Internet: lamentierend, dass etwas neu, anders und nicht so ist, wie man es kannte.
Bezugsgröße ist dabei immer die eigenen Sozialisation - und in der gab es nun mal keine Handys in der Schule und auch keine Computerspiele. Allein deshalb sind diese verdächtig, denn in dem, was man selber für normal hält, spielten sie bisher keine Rolle. Sie können nur gefährlich sein - so der sehr einfache, aber populäre Gedanke.
Mit der Warnung vor diesem Neuen und natürlich Bösen lässt sich trefflich Geld verdienen. Sie bedient populäre Grundmuster und verkauft sich gut. Zu einem konstruktiven Umgang mit den neuen Technologien trägt sie indes kaum bei. Wer (wie Manfred Spitzer) die Smartphone-Nutzung mit dem Rauchen vergleicht, oder gar mit Heroin (wie der Spiegel), und rät, die Handys ganz wegzulegen, wird damit kein Training im Umgang mit dem Neuen befördern. Aber Training ist notwendig, um die Probleme zu lösen, die sich mit dem Neuen ergeben. In einer Welt, in der es kaum Vorbilder für die angemessene Nutzung zum Beispiel von Smartphones gibt, ist es nahezu fahrlässig, ausgerechnet Schülerinnen und Schülern vorzuwerfen, sie verwendeten diese falsch - und verdummten dadurch (was in Wahrheit übrigens immer nur heißen soll, dass sie nicht so klug sind wie der Mahner).
Viel wichtiger wäre es, die Mechanismen des Neuen zu verstehen und zu analysieren, welche Entwicklungen dadurch angestoßen werden. Felix Stalder, der in Zürich an der Hochschule der Künste als Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung arbeitet, hat sich diese Mühe gemacht. Sein Buch "Kultur der Digitalität", gerade bei Suhrkamp erschienen, kann man als Gegenentwurf zur alarmistischen Hitparaden-Literatur lesen. Stalder unternimmt den Versuch, das, was wir verallgemeinernd Digitalisierung nennen, genau zu definieren.
Er tut dies mit den Begriffen Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität , die er für bestimmend für das Digitale hält: Inhalte werden duplizierbar und beziehen sich stärker als bisher aufeinander ( Referentialität); Menschen können sich leichter als je zuvor verbinden und nach Interessen organisieren ( Gemeinschaftlichkeit); Orientierung entsteht immer mehr durch maschinelles Filtern und Sortieren ( Algorithmizität). Dabei verfällt er nicht dem gängigen Fehler, das Neue einzig entlang der technischen Erfindungen zu erzählen. Er nimmt den Leser mit auf eine gesellschaftspolitische Analyse, die schon weit vor Instagram, Twitter und Facebook ansetzt, um zu erklären, warum Menschen sich heute dort organisieren.
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Ausgestattet mit diesem Rüstzeug erlebt der Leser den technischen Wandel nicht mehr als Katastrophe, die es zu bekämpfen gilt, sondern als gestaltbaren Raum, in dem "die Auseinandersetzung darüber, in welcher Welt wir leben wollen, auf welche Ziele die vorhandenen Potenziale ausgerichtet werden sollen", für Stalder "offener denn je" ist. Denn er erkennt nicht nur die Gefahr einer autoritären Postdemokratie durch die Schwächung etablierter Institutionen, sondern auch die Chance auf "radikale Erweiterung und Erneuerung der Demokratie von der Repräsentation hin zur Partizipation". Diese Option fasst er in der Entwicklung der sogenannten Commons zusammen, die man z. B. in der Open-Source-Bewegung erkennen kann und die für Stalder "eine echte, fundamentale Alternative auf der Höhe der Zeit" darstellt.
Dieses Denken basiert auf der Grundannahme, dass die Lösungen für die Probleme der Zukunft sich nicht einzig aus der (eigenen) Vergangenheit speisen können. Sie müssen im Gegenteil aus der Beobachtung dessen erwachsen, was sich als Veränderung ankündigt. Wer den Blick auf Übermorgen richtet, findet zum Beispiel heraus, dass bald ein Buch auf Deutsch veröffentlicht wird, das in diesem Sommer bereits auf Englisch erschienen ist. "The Inevitable" ("Das Unausweichliche") von Kevin Kelly kann als weiterer Titel gegen den Alarm der Hitparaden-Autoren gelesen werden.
Im Titel spielt der Mitgründer des Technik-Magazins Wired ironisch mit der Alarm auslösenden Annahme, technische Entwicklungen seien unausweichlich. Kelly hält sie im Gegenteil für gestaltbar. Dafür sei es aber unabdingbar, zu verstehen, worauf sie beruhen: "Mein Ziel in diesem Buch ist es, die Grundlagen des digitalen Wandels offenzulegen und sie anzunehmen. Wenn wir sie erkennen, können wir mit ihrer Natur arbeiten statt gegen sie zu kämpfen. Damit meine ich nicht, dass wir uns raushalten sollen. Wir müssen diese Innovationen zähmen und zivilisieren, aber wir schaffen dies nur durch intensive Beschäftigung, Erfahrungen aus erster Hand und wachsame Aufnahme."
"Cognifying": Wenn alle Dinge ein Bewusstsein bekommen
Der Wandel sei unausweichlich. Er zeige sich in zwölf Entwicklungssträngen, die er für so wahrscheinlich hält, dass er sie als "Das Unausweichliche" zusammenfasst. Er schränkt allerdings ein: "Diese Kräfte verstehe ich als Bahnen, nicht als Schicksal."
Die zwölf Richtungen sind nicht nur deshalb sehr lesenswert, weil er sie mit dem Punkt "Anfangen" beendet. Sie liefern ein Grundgefühl, was sich aus dem entwickeln wird, was Felix Stalder als Kultur der Digitalität analysiert hat. Zentrale Bedeutung misst Kelly dabei Entwicklungen wie dem Remixen, Filtern, Teilen und auch dem durchaus problematischen Tracking bei. Zu Letzterem schreibt er: Wir werden nicht verhindern können, dass Verhalten aufgezeichnet und gespeichert wird. Es kommt jetzt darauf an, dieses Tracking zu zivilisieren."
Vor allem aber kommt Kevin Kelly das Verdienst zu, den Oberbegriff "Cognifying" erfunden zu haben, unter dem er die Entwicklungen der künstlichen Intelligenz zusammenfasst - und mit der Elektrizität vergleicht. So wie mit Hilfe des elektrischen Stroms für die Reinigung der eigenen Kleidung die Waschmaschine erfunden wurde, sagt Kelly voraus, dass auch die künstliche Intelligenz weite Bereiche des Lebens erfassen wird. "Das Geschäftsmodell der nächsten 10 000 Start-ups ist leicht vorherzusagen", schreibt er, "Nimm X und ergänze es um künstliche Intelligenz. Suche etwas, das besser wird, indem man künstliche Intelligenz hinzufügt."
Und wie bei der Elektrizität empfiehlt sich dabei ein konstruktiver Umgang mit dem Neuen. "Wir müssen", schreibt Kelly, "diese neuen Technologien gestalten, um tatsächliche (statt rein hypothetische) Gefahren zu vermeiden." Offenbar scheint nach der alarmistischen Aufregung der vergangenen Jahre nun der Zeitpunkt für genau diese Form der Auseinandersetzung gekommen zu sein - wenn man nicht nur auf Titelgeschichten von Magazinen und die vorderen Plätze der Beststellerlisten schaut.
Felix Stalder: Kultur der Digitalität, Suhrkamp
Kevin Kelly: The Inevitable, Penguin Books