Süddeutsche Zeitung

Interview mit Gisbert Rühl:"Deutschland ist in großer Gefahr"

Der Siegeszug der Digitalisierung verändert Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland als Standort ist dafür richtig schlecht gewappnet, sagt Gisbert Rühl, Stahlmanager und Vordenker der Digitalisierung in der deutschen Industrie.

Interview von Marc Beise

Kaum jemand in der deutschen Industrie hat sich so früh und so heftig der Digitalisierung verschrieben wie Gisbert Rühl. Ausgerechnet in einer der klassischsten Branchen überhaupt, dem Stahlhandel, hat er Ideen aus dem Silicon Valley umgesetzt. Jetzt gibt er den Chefposten beim Milliardenkonzern Klöckner & Co ab - und zieht exklusiv für die Süddeutsche Zeitung Bilanz von 30 Jahren Digitalisierung in Deutschland.

SZ: Herr Rühl, Sie sind 62 Jahre alt. Der Siegeszug der Digitalisierung hat Sie - Entschuldigung - in reiferem Alter erwischt. Trotzdem sind Sie hier ein Vorreiter. Wie konnte das passieren?

Gisbert Rühl: Ich bin eigentlich schon sehr früh mit dem Thema Digitalisierung in Berührung gekommen, oder wie man damals noch sagte: EDV. Ich habe mein Studium durch das Programmieren mit Cobol finanziert. Dann hatte ich einen der ersten Nokia Communicators in Deutschland ...

Ah, dieses kleine quergelegte Mobilfunkgerät von vor 20 Jahren, eigentlich der Vorläufer des Smartphone, oder?

Ja, genau. Ich habe mir das direkt aus Finnland bestellt, in Deutschland gab es das noch gar nicht.

Ist das Ihr Ding: Immer die neuesten Geräte, am besten sofort?

Ja, kann man in Bezug auf mobile Geräte sagen.

Und Ihr Haus ist durchdigitalisiert, oder? Ein sogenanntes Smart Home?

Sehr zum Leidwesen meiner Frau habe ich in der Tat einiges automatisiert, ja. Ich habe auch einen eigenen Cloud Server zu Hause. Solche Sachen halt.

Und natürlich fahren Sie Tesla?

Ich habe mir jetzt tatsächlich privat einen Tesla zugelegt, in Weiß. Ich hatte lange genug große dunkle Benziner als Dienstwagen.

Nach dem Studium haben Sie bei einer Unternehmensberatung gearbeitet, zuständig wieder für den sich damals gerade entwickelnden Digitalbereich. Als Sie in die Firmenwelt gewechselt sind, hätten Sie also locker bei einem IT-Unternehmen einsteigen können. Stattdessen gingen Sie in den Maschinen- und Anlagebau, später in die Stahlindustrie. Klassischer ging's nicht.

IT-Firmen waren damals erst im Aufbau und waren meistens eher klein. Und ich wollte in einem richtig großen Unternehmen Karriere machen. Da blieb damals nur die etablierte Industrie.

Zur Strafe kamen Sie mit lauter Leuten zusammen, die von Digitalisierung noch nie was gehört hatten.

Das war ja auch eine Chance. Aber ich musste lernen, dass alles seine Zeit hat im Leben. Wir haben bei Babcock Borsig Anfang 2000er Jahre ...

... ein deutsches Traditionsunternehmen im Ruhrpott ...

... früh versucht, die Abläufe zu digitalisieren. Das Unternehmen stand hart im Wettbewerb. Wir wollten effizienter und schneller werden. Die Idee war, sozusagen ein Kraftwerk virtuell auf einer Collaboration-Plattform vorzubauen und dort alle realen Prozesse abzubilden. Wir hatten IT-Profis dabei, SAP, Cisco, und trotzdem: Unsere Ideen ließen sich technisch noch gar nicht umsetzen, wir waren zu früh dran.

Von Industrie 4.0 war damals auch noch nicht die Rede. Digitalisierung war vor allem eine Sache der Konsumgüterwirtschaft. 2007 kam Apple mit dem ersten iPhone.

Ja, B2C, also das Geschäft zwischen Unternehmen und Konsumenten, funktionierte, wobei die Bs, die Businesskonzerne, fast alle aus den USA kamen und kommen. B2B, also Digitalisierung innerhalb der Geschäftswelt, hat erst mit Amazon Business an Bedeutung gewonnen.

Da kann die deutsche Industrie jetzt ihre Produktionskompetenz ausspielen.

Wenn sie nicht zu langsam ist. Wer jetzt nicht schnell umstellt, wird es in wenigen Jahren sehr schwer haben.

Ist die deutsche Industrie denn schnell genug?

Um die Industrie an sich mache ich mir weniger Sorgen, die ist international und kreativ. Selbst die Automobilindustrie bewegt sich nun endlich. Aber der Standort Deutschland insgesamt lahmt gewaltig. Die Pandemie hat gezeigt, wie rückständig wir sind: in den Schulen, in der Verwaltung. Die Mängel in der digitalen Infrastruktur. Die überbordende Bürokratie. Die Mutlosigkeit. Wir sind ein Land geworden, in dem sich niemand mehr was traut. Mit dieser Mentalität werden wir im internationalen Wettbewerb keine Chance mehr haben. Deutschland ist aus meiner Sicht in großer Gefahr. Und die Politik sieht das nicht oder will es nicht sehen.

Vielleicht nach der Bundestagswahl?

Ich habe bisher keinen Anlass für große Hoffnungen. Ich habe mich eine Zeit lang politisch engagiert, viel beraten, für Innovationen geworben. Wir brauchen mehr Flexibilität im Arbeitsrecht, bessere Steuerbedingungen, weniger Regulierung. Aber nichts passiert, während in anderen Ländern die Bremsen gelöst werden. Ich bin ziemlich sauer.

Hört man, ja. Aber Widerstände sind Sie ja gewohnt. Nach Babcock gingen Sie in die Stahlindustrie, dabei ist diese Branche noch altmodischer.

Gut, speziell der Stahlhandel, in dem Klöckner & Co tätig ist, ist noch alte Schule. Man hat Hunderte von Kunden, die noch mit Faxgeräten operieren. Jeder hat Sonderwünsche, und die Geschäfte werden vor Ort in der Region gemacht. Aber das wird sich ändern, und darauf muss man vorbereitet sein.

Wann haben Sie gemerkt, dass jetzt Ihr Momentum da ist?

Das war etwa im Jahr 2013/2014. Der Stahlhandel ist ja ein mühsames Geschäft, mit überwiegend geringen Gewinnmargen. Wer dauerhaft Erfolg haben will, hat eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder bearbeitet er den Stahl immer hochwertiger, aber das hat nur in Nischen Potenzial. Oder man steigt ins Plattformgeschäft ein. Digitalisiert und standardisiert die Abläufe und kann dadurch immer mehr Umsatz machen. Das war mein Weg. Ich erinnerte mich wieder an meine Anfänge. Ich hatte sogar noch das Standardwerk von Clayton M. Christensen aus den 90er-Jahren im Bücherregel: "The Innovator's Dilemma".

Darin wird der harte Umbruch empfohlen: Disruption. Hat das geklappt?

Nicht auf Anhieb. Es dauerte alles wieder länger, als ich dachte. Wir haben auch Fehler gemacht, aber das gehört dazu. Dann war ich mehrfach im Silicon Valley und habe mich dort und später in Berlin mit Digitalisierungsprofis ausgetauscht. Ich habe begriffen, dass ich die alten Strukturen brechen musste.

Das hieß bei Ihnen?

Wir haben dreierlei gemacht: Zunächst wurde der Umbruch ausgelagert in unser Innovation Lab "kloeckner.i" in Berlin. Das war der Durchbruch.

Warum ging das nicht zu Hause in Duisburg?

Disruption geht nur außerhalb der Konzernstrukturen und in kreativer Umgebung. Denn zum damaligen Zeitpunkt gab es die "Digital Natives", mit denen wir die Stahlindustrie angreifen wollten, gar nicht in Duisburg.

Und weiter?

Zweitens die hierarchiefreie Kommunikation. Und drittens die Digital Academy, um alle Mitarbeiter durch den Wandel mitzunehmen. Die Idee kam mir beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Das Ziel stand fest, und drei Wochen später sollte der erste Kurs in der Akademie angeboten werden.

Und das hat geklappt?

Oh ja. Überhaupt sind wir jetzt da, wohin ich mit Klöckner immer wollte. Die Erfolge stellen sich ein, das sieht man jetzt auch in den Zahlen. Wir haben gerade das beste Quartalsergebnis seit mehr als zwölf Jahren vorgelegt.

Kein Wunder, in der Stahlbranche sind die Preise hoch, da kann man gerade gut verdienen.

Das stimmt, aber wir haben unsere Kernprozesse erfolgreich automatisiert. Damit können wir letztlich Hunderte von Millionen Euro Kosten sparen, vor allem aber dank unseres Plattformkonzeptes auch schnell wachsen.

Sie haben Ihren Kunden das Bestellen mit dem Fax ausgetrieben?

Das haben wir versucht, aber das dauerte uns zu lange. Deshalb gehen wir den anderen Weg: Der Kunde muss gar nichts ändern. Aber wir haben die Technologie, die Faxe und PDFs automatisch in unsere Rechensysteme einzuspeisen, auch dank künstlicher Intelligenz. Insgesamt sind wir bei der digitalen Transformation sehr gut vorangekommen. Der Umsatz über digitale Kanäle wird in diesem Jahr die 50-Prozent-Schwelle übersteigen. Und der nächste Schritt ist unsere Stahlhandelsplattform XOM Materials. Die steht auch anderen Stahlhändlern offen, das ist eine echte Revolution.

Das wäre sozusagen das Amazon der Stahlindustrie?

Genau, denn solche Plattformen wachsen exponentiell. Als Aufsichtsratsvorsitzender von XOM werde ich die Plattform auch zukünftig begleiten, sobald wir externe Investoren an Bord geholt und damit die Unabhängigkeit von Klöckner weiter gesteigert haben.

Davon abgesehen hören Sie ja jetzt bei Klöckner auf, Ihr Nachfolger Guido Kerkhoff ist schon im Haus und wird nach der Hauptversammlung am kommenden Mittwoch offiziell übernehmen. Warum gehen Sie?

Auch wenn ich immer gerne bei Klöckner gearbeitet habe, habe ich mich vor einiger Zeit entschlossen, dass ich noch mal etwas anderes machen will: mein eigener Herr sein. Selbst investieren. Unternehmen, an denen ich mich beteilige, zum Erfolg führen. Gründern zu helfen. Auch wenn ich mich, wie Sie eingangs erwähnten, im reifen Alter befinde, freue ich mich darauf, noch mal neu durchzustarten.

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