Süddeutsche Zeitung

Kolumne: Silicon Future:Schluss mit den Faxen

Deutschland hat die Digitalisierung grandios verschlafen. Das liegt auch an der Regierung, aber nicht nur. Es fehlt auch an der Lust und am Mut, das Gewohnte aufzugeben.

Von Helmut Martin-Jung

Das Kind, das man war, konnte nicht beurteilen, ob es damals schon Zahnärzte gegeben hätte, die mit fortschrittlicherer Technik ausgestattet waren. Die Eltern schickten einen eben zu jenem Choleriker, der zwar sein Handwerk verstand, aber dessen Equipment wohl schon damals, späte 1960er, reif fürs Technikmuseum war. Riemen trieben irgendwelche Rädchen an, der Bohrer am Ende der antiquierten Apparatur fraß sich quälend langsam in den Zahnschmelz, für die Kühlung musste eine Helferin mit einer Sprühflasche sorgen. Was sie leider immer zu selten tat.

Man darf annehmen, dass niemand sich heute wünschen würde, zu einem Zahnarzt mit einer derartigen Ausstattung gehen zu müssen oder gar wie noch früher zum Bader, der faule Zähne mit der Beißzange zog. Auch in vielen anderen Lebensbereichen hat technischer Fortschritt Erleichterungen gebracht, auf die wohl kaum jemand gerne verzichten würde. Der ICE etwa ist, bei aller manch ärgerlichen Unpünktlichkeit, nicht zu vergleichen mit einer Reise in der Postkutsche, bei der man auch noch Gefahr lief, überfallen zu werden. Oder die Kommunikationstechnik. Dass es sie gibt, sorgt in der Pandemie dafür, dass das Wirtschaftsleben weitergehen kann.

Unbestritten ist andererseits, dass das, was allgemein Fortschritt genannt wird, auch seine Schattenseiten hat. Dass die Menschheit im Übermaß fossile Brennstoffe nutzt, wird sie in eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes stürzen, wenn nicht rasch und konsequent umgesteuert wird. Davor die Augen zu verschließen, nützt nichts, solange die Schlote weiterrauchen. Es ist also völlig klar, dass man zu Technik und vor allem zu ihrer Anwendung durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann und dass man sie auch nicht vorbehaltlos bejubeln muss.

Zwang zur Digitalisierung

Es wäre allerdings schon recht töricht, wenn man sie da nicht einsetzte, wo sie gravierende Verbesserungen bewirken kann. Die Pandemie hat gezeigt, was möglich ist, wenn man nur - nein, nicht: will, sondern: muss. Erst der Zwang, quasi aus dem Stand das Arbeiten von zu Hause aus zu ermöglichen, hat der Mehrheit der Unternehmen gezeigt, dass dies a) möglich ist und b) keineswegs die Produktivität senkt. Auch wenn vielen Heimarbeitern allmählich die Decke auf den Kopf fällt - es ist hochgradig ärgerlich, dass Verwaltung und Bildung in keiner Weise Schritt halten können.

Das liegt natürlich daran, dass Verwaltung und Bildung schon vor der Pandemie hoffnungslos hintendran waren und diesen Rückstand nun in einem Jahr auch nicht aufholen konnten. Begünstigt wird alles noch dadurch, dass die Verantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen zersplittert sind. In seinem digitalpolitischen Wahlbarometer hat der Verband der Internetwirtschaft Eco ermittelt, dass nahezu 100 Prozent der Deutschen den Stand der Digitalisierung von Verwaltung und Schule miserabel finden. Auch wenn es um die Infrastruktur geht, also um schnelles Internet und Mobilfunkabdeckung, schneidet die Regierung fast genauso schlecht ab.

Die Menschen sind es leid

Man könnte dergleichen leicht als Lobbyismus abtun, schließlich haben Firmen wie Vodafone und Huawei die Studie finanziert. Doch die Tendenz ist sicher nicht falsch, und somit dürften die Zeiten endgültig vorbei sein, in denen es hieß, mit digitalen Themen seien keine Wahlen zu gewinnen. Eher ist es so, dass die Menschen es mehrheitlich leid sind, sich damit einfach abzufinden. Alleine das Bild, das die Regierungen von Bund und Ländern bei der Kontaktverfolgung abgeben, ist einfach jämmerlich. Schon fürchtet die EU, Deutschland könne der Bremser bei einem europaweit gültigen Impfausweis sein. Frage: Kann man den auch faxen?

Ist das kulturell geprägt? Die Otto Beisheim School of Management will in einer Studie herausgefunden haben, dass die Deutschen, verglichen mit Ländern in Ostasien, wenn es um Technik geht, eher die Bedenken in den Vordergrund stellen, als die Vorteile zu begrüßen. Die Untersuchung krankt leider daran, dass sie auf einer zu kleinen Zahl von Befragten basiert - insgesamt nur 734 in fünf Ländern, davon sind viele offenbar Studenten.

Es ist eine Mentalitätsfrage

Falsch aber ist das ist trotzdem nicht. Denn klar ist es eine Mentalitätsfrage, wie gut oder schlecht eine Gesellschaft mit neuen Herausforderungen, Chancen und Risiken umgeht. Und da stellt man fest: Von dem Ruck, der eigentlich durchs Land gehen müsste, von Aufbruchstimmung, ist wenig zu spüren. Digitalisierung - ja, sie hat auch Nachteile - ist eine Riesenchance. Und es verhält sich dabei so: Wer Kompetenzen entwickelt, auch als Gesellschaft, hat bessere Möglichkeiten, sie zu gestalten. Wer das nicht tut, kann sich dann höchstens noch mit dem Wettbewerbsrecht wehren - wenn es eigentlich schon zu spät ist.

Und nun? Wäre es doch mal einen Versuch wert, Dinge einmal auszuprobieren, um später vielleicht das eine oder andere Detail noch anzupassen. Die Voraussetzungen sind ja gut in Deutschland, es fehlt nur der Spirit, auszubrechen aus dem Gewohnten. Ob es Digitalminister gibt oder nicht, ist dabei unerheblich. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der die Politik natürlich hätte vorangehen müssen. Dass die Regierung das so lange versäumt hat, wird in die Geschichte eingehen als einer ihrer gravierendsten Negativposten. Außer Sonntagsreden ist nicht viel passiert, und so schicken eben die Gesundheitsämter Faxe ans Robert-Koch-Institut, wo bemitleidenswerte Mitarbeiter sie wieder abtippen. Wem das nicht wehtut, der hat es eben immer noch nicht verstanden.

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