Digitalisierung:Die Zukunft ist schon da

Damit Deutschland den Anschluss nicht verliert, muss es pragmatischer werden. Nicht irgendwann mal, sondern jetzt sofort.

Von Dirk von Gehlen, München/Berlin

Wo immer bisher öffentlich über die Digitalisierung gesprochen wurde, blieb ein virtueller Platz am Tisch frei. Zwar sah man das nicht auf dem ersten Blick, aber sobald das Gespräch begann, wurde sofort die Kraft der digitalen Vernetzung für die Zukunft beschworen. So sehr, dass man stets wünschte, die Zukunft sei doch endlich da - und nähme Platz in der Runde, um ein paar Details darüber zu verraten, wie es denn wirklich sein wird. Irgendwann mal.

Beim Panel "Digitalisierung - Wie Deutschland jetzt den Anschluss schafft" ist das anders. Als das Gespräch auf der Adlon-Bühne beginnt, ist die Zukunft schon lange da - nicht bloß als Idee oder zugeschaltete Begleiterin, sondern fast genauso körperlich wie die vier Diskutanten und Moderator Ulrich Schäfer. Der stellvertetende SZ-Chefredakteur bekommt schon auf seine Eingangsfrage eine nahezu einheitliche Rückmeldung. Wer im Herbst 2020 über die Zukunft der Digitalisierung spricht, muss vor allem zurückschauen: "Fünf Wochen Lockdown", stellt Valentina Daiber von Telefónica Deutschland zum Einstieg fest, "haben die Digitalisierung mehr voran gebracht als die fünf Jahre zuvor."

Der Lockdown als Volksexperiment Digitalisierung

Der Umgang mit den Herausforderungen der ersten Lockdown-Phase im Frühjahr ist auch für Verena Pauseder vom Verein Digitale Bildung ein "Volksexperiment Digitalisierung" gewesen, das die Gesellschaft nicht nur in die Zukunft katapultiert habe, sondern auch zu der "größten flächendeckenden Fortbildung" in der Geschichte Deutschlands geführt habe. Die Corona-Krise habe dafür gesorgt, dass das Land in Fragen der Digitalisierung sehr pragmatisch sehr viel aufgeholt habe.

So hat sich nicht nur der Blick auf das Internet und die damit verbundene Vernetzung verändert, der Unternehmer Christian Miele hat sogar einen Wandel "von einer Digitalisierungs-Scham zu einem Digitalisierungs-Stolz" beobachtet. Als Vorsitzender des Bundesverbands Deutsche Startups reicht ihm das aber nicht, er will den Digitalisierungsschub der vergangenen Monate als Startpunkt zu verstehen.

Dem pflichtet auch Paul Kaffsack bei, der die Cybersecurity-Firma Myra gegründet hat und die Veränderungen der vergangenen Monate mit einer Bahnfahrt vergleicht: "Wir haben gerade so den Zug erwischt", fasst der Sicherheitsexperte zusammen und fordert: "Im nächsten Bahnhof müssen wir jetzt aber den Hyperloop erreichen, damit wir in fünf oder zehn Jahren wieder vorne dran sind."

Doch um die Idee, in Kapseln fast mit Schallgeschwindigkeit durch ein Science-Fiction-artiges Verkehrssystem zu reisen, geht es dann gar nicht mehr. Die Zukunft ist hier viel bodenständiger und auch viel greifbarer. Sie benötigt keine Luftkissen, die durch Röhren geschossen werden, sondern sehr gegenwärtige Dinge wie Mut und die Bereitschaft, Fehler zu machen. Die Erfahrung des Digitalisierungsschubs habe gezeigt, dass "wir bisher eher in Risiken als in Chancen gedacht haben", analysiert Valentina Daiber von Telefónica und fordert: "Wir müssen schneller vom Diskussions- in den Macher-Modus kommen."

Bildungsexpertin Verena Pausder überträgt dies direkt auf das schulische Umfeld, für das sie sich mehr konkretes Anpacken wünscht: "Wir müssen uns jetzt trauen, grau und nicht immer nur schwarz-weiß zu denken: also hybride Lösungen finden, die die nächsten Monate gestalten und nicht darauf hoffen, dass in zwei oder drei Jahren alles besser wird."

Zukunft fühlt sich in dieser Debatte stets greif- und gestaltbar an wie "heute abend" und nie abgedreht oder futuristisch wie in "übermorgen". Und so gerät auch der Plan, den Moderator Ulrich Schäfer zum Abschluss mit den Diskutanten erarbeitet, sehr greif- und nachvollziehbar. Christian Miele gibt zwar zu bedenken, dass es in einer unübersichtlichen Welt vielleicht schon Teil des Problems sei, für alles eine festen Plan machen zu wollen ("Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht alles konkret planen können"), stimmt dann aber zu, als Paul Kaffsack vorschlägt, "auch mal mit einem Prototypen zu starten und daraus zu lernen". Der Sicherheitsexperte wünscht sich als Plan, um den Anschluss zu schaffen, mehr mutiges und unternehmerisches Denken in Politik und Verwaltung.

Kinder sollen zu Gestaltern ausgebildet werden, nicht zu Konsumenten

Telekommunikations-Vertreterin Valentina Dauber will "wegkommen von teuren Frequenzoptionen und dieses Geld stattdessen in den Infrastrukturausbau stecken", und Bildungsexpertin Verena Pauseder möchte digitale Bildung in den Mittelpunkt der Zukunftsagenda rücken. Sie fordert: "Jetzt ist es an der Zeit, ein Zukunftsversprechen an unsere Kinder zu geben, dass wir sie zu Gestaltern der digitalen Zukunft ausbilden wollen, nicht bloß zu Konsumenten."

Mit diesen Punkten könne die Gesellschaft "ein Mindset der Digitalisierung" entwickeln, sagt Paul Kaffsack und plötzlich hat man das Gefühl, dass da doch ein freier Platz auf dem Podium ist. Aber es geht dabei nicht um die gesichtslose Zukunft, sondern um eine sehr konkrete Person: Die- oder denjenigen, die oder der Angela Merkel als Chef der nächsten Bundesregierung nachfolgen wird. Sowohl Christian Miele als auch Verena Pauseder formulieren in ihren Abschluss-Statements einen klaren Wunsch an den nächsten Bundeskanzler oder die nächste Bundeskanzlerin, er oder sie solle sich direkt zum Start klarer zum digitalen Fortschritt bekennen. Denn anders als in den Digitalisierungs-Debatten der Vergangenheit ist dieser seit Corona kein Thema mehr für ein weit entferntes "Irgendwann mal", sondern für ein sehr konkretes und pragmatisches "jetzt sofort".

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