Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Jetzt oder nie

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Deutschland muss die Digitalisierung endlich mit Verve anpacken, sonst ist es zu spät.

Kommentar von Helmut Martin-Jung

Es tut leider nicht akut weh, aber an diesem Mittwoch war es wieder so weit: An diesem Erdüberlastungstag hat Deutschland bereits alle Ressourcen verbraucht, die unser Heimatplanet in einem ganzen Jahr wieder nachliefern kann. Bekannt ist es schon lange, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, allmählich aber sind die Folgen des Raubbaus an Ressourcen immer deutlicher zu spüren. Es ist nicht mehr viel Zeit, etwas dagegen zu tun.

Weil es ein Zurück in die Wälder nicht geben wird, bleibt nur eine Mischung aus Einsicht, Technologie und ja, auch aus Verzicht. Das Gute daran: Je besser Technologie eingesetzt wird, um den ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, desto weniger Verzicht wird nötig sein. Daraus sollte ein positiv besetztes Großprojekt werden: Technologie nicht als Motor eines zerstörerischen "Schneller, höher, weiter". Sondern als mächtiger Helfer für eine umweltfreundliche Lebensform.

Eine Hauptrolle dabei spielt die Digitalisierung. Aufzuhalten ist diese Technologie ohnehin nicht - längst ist die ganze Welt davon erfasst. Doch man darf sie nicht einfach geschehen lassen, dem Spiel des freien Marktes überlassen. Was dann passiert, lässt sich an den großen Digitalkonzernen aus den USA und China beobachten, die viel zu viel Macht angehäuft haben. Digitalisierung muss vielmehr gestaltet werden, aber nicht mit Angst im Nacken, sondern mit Lust auf die tausend Möglichkeiten, die sie eröffnet.

Erstaunliche Erkenntnisse durch Daten

Eine Besonderheit dieser Technologie ist es, die reale Welt modellhaft in Form von Daten zu spiegeln. Aus diesen Daten lassen sich, unterstützt etwa von maschinellem Lernen, Schlüsse ziehen, die man nutzen kann, um Dinge zum Positiven zu verändern. Wenn etwa die Landwirtschaft Daten erfasst, kann sie zum Beispiel gezielter Düngemittel ausbringen und bewässern. In der Wirtschaft kann die Auswertung der Datenberge erstaunliche Erkenntnisse zu Tage fördern und den Ressourcenverbrauch senken.

Damit das funktioniert, muss man sie allerdings erst einmal haben, die Daten. Doch warum fehlen sie? Ist das strenge Datenschutzrecht schuld, auf das Europa zu Recht so stolz ist? Nein, in vielen Fällen scheitert es gar nicht an der - schreckliches Wort - Datenschutzgrundverordnung. Es geht ja nicht darum, Herrn Müller und Frau Meier zu verfolgen. Zumal es gute Verfahren gibt, Daten zu anonymisieren. Aber es geht um Daten, die zum Beispiel jetzt in der Pandemie helfen könnten. Die aber werden oft gar nicht erst erfasst oder sie werden nicht ausgetauscht. Und auch eine Verordnung ist nicht in Stein gemeißelt. Die entscheidende Frage muss sein, was der Gesellschaft mehr nützt - jedoch immer mit dem Freiheitsgedanken als Leitidee.

Es wäre aber kontraproduktiv, diese Daten nun einfach so zu erheben. Es muss daraus zunächst einmal ein positiv besetztes Projekt werden. Wenn wieder die alte Leier losgeht, das Zögern und Zaudern, das ewig ängstliche Diskutieren und Abwägen, wird es irgendwann zu spät sein. Woran es - natürlich neben einer stringenten Ausführung - vor allem fehlt, ist eine gute Kommunikation. Warum, fragt man sich schon lange, nicht mal witzig und auch ein bisschen selbstironisch, so wie die Berliner Verkehrsbetriebe es vormachen - Slogan: "Weil wir dich lieben"?

Digitalisierung ist gut für alle, wenn sie richtig gemacht wird. Bisher ist es vor allem die Wirtschaft, die völlig zu Recht hervorhebt, wie wichtig diese Entwicklung ist. Völlig klar: Wer denkt, das gehe ihn nichts an, wird sich schon ziemlich bald überrollt sehen. Jedes Unternehmen braucht digitale Werkzeuge. Das kommt aber oft so an, als sei alles bloß ein weiteres Mittel, um den Profit zu steigern. Digitalisierung aber ist so viel mehr. Immerhin hat die Pandemie so manche - Unternehmer wie Privatpersonen - dazu gezwungen, sich intensiver damit auseinanderzusetzen. Hoffentlich bleibt davon mehr hängen als bloß die Erkenntnis, dass es funktioniert.

Eine Entwicklung wie die Digitalisierung, die sich auf so vielen Ebenen vollzieht, ist aber nicht bloß ein Job, den Politik oder Wirtschaft zu erledigen haben (was bisher nur schlecht gelang). Es ist eine Aufgabe für alle. Jede und jeder kann und sollte daran mitwirken. Die Rahmenbedingungen aber muss natürlich die Politik setzen. Neuerdings hört man das D-Wort ja von vielen Politikern. Wie aber ausgerechnet die, die es jahrzehntelang verschlafen und vertrödelt haben, es nun auf einmal besser machen wollen, bleibt ihr Geheimnis. Wolkige Versprechungen in irgendwelchen Agenden und Sonntagsreden auf Digitalkongressen werden jedenfalls nicht reichen.

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