Süddeutsche Zeitung

Digitalisierung:Das Erwachen

Mehr und mehr Firmen setzen auf Datenanalyse und lernen dabei Erstaunliches - manchmal auch, dass sie ihr Geschäft komplett umkrempeln müssen.

Von Helmut Martin-Jung

Als die Firma Mindbreeze bei der Wüstenrot-Gruppe in Salzburg vorsprach, wollte sie dem Unternehmen eigentlich etwas anderes verkaufen. Doch Wüstenrot hatte ein Problem. Ein Post-Problem. 25 000 E-Mails und Briefe kommen allein in der österreichischen Zentrale an. Jeden Tag. Alle müssen sie schnellstmöglich an die richtigen Sachbearbeiter weitergegeben werden. Handelt es sich um eine Kündigung? Wird ein Autounfall gemeldet? Möchte ein Kunde eine Versicherung abschließen? Wie lauten Autokennzeichen, Versicherungsnummer?

Es gibt schönere Jobs, als diese Informationen ins interne System zu übertragen. Und es braucht seine Zeit.

Zeit, die Wüstenrot nicht hat. Die Kunden wollen nicht mehr ewig warten, bis ihre Anfragen beantwortet werden. Also fragten sie Mindbreeze, ob deren System dabei nicht helfen könnte. Es konnte. Heute werden um die 90 Prozent aller Zuschriften, egal ob Mails oder herkömmliche Briefe, in Sekunden zugeordnet. Inklusive der erforderlichen Daten, die auch aus den Texten der Briefe extrahiert werden. Und Wüstenrot erreicht nun sein Ziel, dass binnen zwölf Stunden eine Antwort an den Kunden das Haus verlässt.

Daniel Fallmann, Gründer und Chef von Mindbreeze, erzählt diese Erfolgsgeschichte, wenn er gefragt wird, was es denn wirklich bringe, digitale Prozesse in einem Unternehmen einzuführen. Gerade ist er mit seiner Firma in Linz in ein neues Gebäude gezogen - das alte war zu klein geworden. Er wird mit Anfragen förmlich überrannt: "Was gerade im Markt abgeht, ist überwältigend", sagt Fallmann. "Bei den Unternehmen ist angekommen: ,Entweder ich fange jetzt an, Daten zu nutzen, oder ich bekomme ein Problem.'"

Das Problem, es lässt sich kurz so beschreiben: Geht ein Digitalisierungsprojekt in einem Unternehmen richtig ab, kurbelt es das Wachstum nicht bloß an. Es wirkt wie Brandbeschleuniger, schnell und intensiv. Das verschafft den Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil, weil es ihnen die digitalen Werkzeuge und Prozesse erlauben, sich voll und ganz am Kunden zu orientieren. Wer aber weitermacht wie bisher, kann ganz schnell abgehängt werden.

Vier von fünf deutschen Unternehmen gaben in einer aktuellen Befragung des Branchenverbandes Bitkom an, wichtige Entscheidungen würden zunehmend auf Basis von Datenanalysen getroffen, bei mehr als zwei Drittel der Befragten spielen Datenanalysen eine zunehmend wichtigere Rolle in der Wertschöpfung. Und immerhin knapp 40 Prozent verwenden demnach bereits Werkzeuge zur vorausschauenden Analyse, um Prognosen über künftige Entwicklungen zu erhalten.

"Geschäftsmodelle können über Daten ganz neu definiert werden."

Die Daten einer Firma auszuwerten, das kann auch in gewisser Weise zerstörerisch sein: Wer erst einmal sein Unternehmen auf dem Röntgenschirm der Datenanalyse betrachtet hat, dem geht womöglich auf, dass die Art, wie die Firma ihr Geld verdient, stark verändert, vielleicht sogar komplett aufgegeben werden muss. "Geschäftsmodelle können über Daten ganz neu definiert werden", sagt Oliver Muhr. Muhr leitet das Start-up Seerene, eine Ausgründung des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam. Was er macht, gehört zu den Dingen, die überhaupt erst mit der Analyse von Daten sichtbar werden.

Seerene hat ein Verfahren entwickelt, den Code von Software in Bilder zu übersetzen. Heraus kommen dabei Diagramme, die auf einen Blick zeigen, wo es hakt. Menschen könnten das gar nicht mehr bewältigen. Allein Googles Android, ein eher schlankes Betriebssystem für Handys und Tablets, umfasst bereits etwa 400 Millionen Zeilen Programm-Code, "ausgedruckt ergäbe das einen Papierstapel so hoch wie ein Hochhaus", sagt Muhr. Die Bilder, die Muhrs Software ausspuckt, zeigen, wo die Programme zu komplex sind, wo sie zum Beispiel sieben Bedingungen so ineinander verschachteln, dass ein Mensch lange braucht, um das aufzudröseln.

Doch wenn die Programme so komplex sind, wird es auch schwer, bei Fehlern einzugreifen. Ja, Fehler entstehen überhaupt erst durch diese Komplexität. Auch dem Potsdamer Start-up rennen sie deshalb die Bude ein, Firmen wie Lufthansa, Adidas, Rewe, Daimler oder die Otto Group gehören zu den Kunden. 45 Beschäftigte hatte Muhr im Sommer, Ende dieses Jahres sollen es doppelt so viele sein, in New York und Hongkong gibt es schon Büros, weitere sollen folgen. Binnen eines Jahres sei die Firma um 1000 Prozent gewachsen, "wir sind mitten im Sturm", sagt Muhr.

Unter den ersten Branchen, die sich Datenanalyse zunutze machten, waren Handelsunternehmen, sagt Michael Feindt. Der Physiker ist der wissenschaftliche Kopf hinter der Firma Blue Yonder. Früher analysierte er am Kernforschungszentrum Cern die Daten, die bei Versuchen mit subatomaren Teilchen entstanden. Und stellte fest: Die Rechenmethode, die er dafür erfand, funktioniert auch für Geschäftsanwendungen. Die Handelskette Kaufmarkt etwa lässt sich bei ihren Fleischabteilungen von Blue Yonder helfen. Das System weiß, wie das Wetter wird, wann Feiertage sind, kennt die Historie der vergangenen Jahre und liegt beim Fleischeinkauf um so viel mehr richtig, dass die Kette damit einen zweistelligen Millionenbetrag im Jahr einspart.

Allmählich, glaubt der Brite James Eiloart, sei der Punkt erreicht, an dem man als Firma nicht mehr zu den Vorreitern gehört, wenn man strategische Entscheidungen nicht auf Datenanalysen stützt. "Das wird mehr und mehr zum generellen Trend", sagt Eiloart. Er ist Europachef von Tableau. Die US-Software-Firma macht etwas Ähnliches wie Seerene, nur allgemeiner: Sie zaubert aus Zahlenwüsten anschauliche Grafiken und Diagramme, Bilderbücher für Manager, wenn man so will.

"Wir können aus der Kommunikation ableiten, wo einer sich auskennt."

"Das Schwere daran ist", sagt Eiloart, "etwas Kompliziertes einfach zu machen." Denn die Software richtet sich nicht an IT-Spezialisten, "jeder, nicht bloß Techniker, soll darauf Zugriff haben." Mit dem Ziel, vom Bauchgefühl weg hin zu datengetriebenen Entscheidungen zu kommen. Da lernen dann beispielsweise die Hersteller von Computerspielen, dass ihre Kunden nicht unbedingt Geld dafür ausgeben möchten, bessere Waffen zu bekommen. Nein, eher würden sie dafür zahlen, dass ihr Alter Ego auf dem Bildschirm cool aussieht.

Nicht nur über die Kunden erfährt man aus den schlummernden Datenschätzen der Firmen so einiges, auch über die Mitarbeiter. In Großfirmen kann man nicht jeden kennen, doch wird das Wissen der Mitarbeiter besser erschlossen, dann wird Heinrich von Pierers Ausspruch von 1995 endlich ein Stück weit Wirklichkeit: "Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß", klagte der damalige Vorstandschef.

Das Problem ist, dass im Arbeitsalltag nicht genug Zeit und Energie bleiben, das Wissen der Mitarbeiter so zu erfassen, dass es Neulingen oder Nachfolgern nutzt oder jemandem, der eine ganz spezielle Aufgabe zu lösen hat. Systeme, wie sie etwa Mindbreeze anbietet, brauchen aber keine minutiös und nach Schema niedergelegten Aufzeichnungen. Sie durchstöbern die digitalen Daten, etwa Mails, und erstellen Profile: "Wir können aus der Kommunikation ableiten, wo einer sich auskennt", sagt Mindbreeze-Chef Fallmann.

Daten, das Erfolgsgeheimnis steckt immer in den Daten. Celonis, auch eine sehr junge, sehr erfolgreiche Firma, durchleuchtet die sogenannten Prozessdaten. Das sind Einträge in Systeme zur Warenverwaltung, zur Produktion und Ähnliches. Auch hier wird am Ende grafisch sichtbar, wie die Prozesse in einer Firma verlaufen - schon so mancher Manager hat mit großer Verwunderung auf das aus den Daten erzeugte Röntgenbild seines Unternehmens geblickt. Und kein Berater muss mehr wochenlang die Mitarbeiter befragen.

Die Beratungsunternehmen haben das natürlich auch gemerkt, längst gehören Datenanalysen zu ihren Werkzeugen, wenn sie gerufen werden, einer Firma zu helfen. "Das Thema Daten wird virulent", sagt Philipp Gerbert. Der Physiker hat in den USA studiert und ist schon seit vielen Jahren Partner bei der Boston Consulting Group (BCG). "Die Art, wie wir Beratung machen, ändert sich dramatisch", beobachtet er. Schon früher habe man zwar datengetrieben gearbeitet, also auf die wichtigen Kennzahlen geachtet, aber "jetzt setzen wir uns auf die Rohdaten drauf".

Mit Software zum Beispiel von Tableau werden die Ergebnisse visuell eindrucksvoll präsentiert. Und bei Bedarf kann an beliebigen Stellen "bis auf die tiefste Ebene gebohrt" werden - die Daten sind ja da. Für Beratungsfirmen wie BCG heißt das, dass auch die Teams anders zusammengesetzt sein müssen als früher. Und die Kunden erhalten nicht nur ein Konvolut an Analysen und Empfehlungen, sondern auch das in Echtzeit funktionierende Datenmodell, das sie weiter benutzen können.

"Konzerne sind zerfressen vom Bewahrertum."

Wenn sie denn überhaupt schon so weit sind: "Die Methoden-Schere geht immer weiter auf", sagt BCG-Mann Gerbert, "anfangs ist oft schon die Kommunikation schwierig. Wir stoßen da auf Strukturen, die sehr viel langsamer reagieren." Dabei würden die Firmen sehr profitieren: "Man kriegt wahnsinnig schnell raus, was falsch läuft", sagt Gerbert, "die Firmen machen damit Riesenschritte nach vorne." Gerbert erzählt von einem deutschen Autohersteller, der beschloss, die Teile in der Produktion mit RFID-Etiketten zu versehen, billigen Aufklebern, die an Lesegeräte Identifikationsnummern senden können. "Da herrschte von einem Tag auf den anderen auf einmal völlige Transparenz."

Es ist jedoch keineswegs so, dass die datengetriebenen Innovationen in jedem Unternehmen von allen Mitarbeitern freudig begrüßt werden. Ganz im Gegenteil, "Konzerne sind vom Bewahrertum zerfressen", sagt Philipp Depiereux. Er ist Gründer und Chef des Münchner Unternehmens Etventure, das anderen Firmen dabei hilft, zu digitalen, also datengetriebenen und kundenorientierten Unternehmen zu werden. Aus lauter Angst, sich selber überflüssig zu machen, empfahlen etwa Angestellte in einem großen Buchladen Kunden, sie sollten Bücher, die nicht vorrätig waren, bei Amazon bestellen, anstatt über den neuen, firmeneigenen Online-Service. Was natürlich dazu geführt hätte, die ganze Firma überflüssig zu machen.

Damit digitale Projekte von den Bewahrungskräften im Unternehmen nicht gleich im Keim erstickt werden, empfiehlt Depiereux ein einfaches Rezept: "Gründen Sie eine Digital-Einheit außerhalb des Unternehmens", sagt er. Davor aber muss noch etwas anderes stehen: "Anfangs arbeiten wir nur mit dem CEO zusammen", sagt er. "Ist es wirklich ein Topthema? Denn der muss das treiben." Die kleinen Digitaleinheiten könnten dann unabhängig vom Mahlstrom der Bürokratie, von Compliance-Bedenken, juristischen Fragen und ähnlichen Hindernissen arbeiten.

"Innerhalb weniger Wochen hat man einen Prototypen." Den stellt man einer Auswahl von Kunden zur Verfügung, und wenn er angenommen wird, kann man anfangen, ihn in die alte Organisation zu übernehmen. Viele Konzerne, von Siemens über SAP bis hin zum familiengeführten Heiztechnik-Unternehmen Viessmann, machen das so. Und weil es etwa Viessmann bestimmt nicht leichtgefallen wäre, die "Talente der Zukunft", wie Depiereux das nennt, an seinen abgelegenen Hauptsitz in Nordhessen zu locken, ist es gerade recht, dass die Digital-Einheit der Firma in Berlin sitzt - weit weg vom Mutterschiff.

In Berlin und einigen anderen Großstädten ist es nicht ganz so schwer, diese Talente zu finden. Aber leicht ist es auch nicht, klagt etwa Daniel Fallmann, der Mindbreeze-Chef. "Wenn es so weitergeht, wird das Thema Mitarbeiter unser größtes Problem", sagt er, "es gibt einen unglaublichen Fachkräftemangel".

Aber was, wenn man die Daten von Arbeitnehmern nutzen würde, um die besten Köpfe zu finden - vielleicht sogar solche, die gar nicht ahnen, was sie können und wie gefragt sie sind? Genau das tun Firmen wie Xing oder Weltmarktführer Linked-in. Leute herbeizaubern, die es einfach nicht gibt, können sie allerdings auch nicht.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2016
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