Nachhaltigkeit:Digitalisierung führt nicht automatisch zu mehr Klimaschutz

Nachhaltigkeit: Arbeiterinnen in der Fabrik eines chinesischen Smartphone-Herstellers. Die Produktion der Geräte verursacht den größten Anteil am CO₂-Ausstoß.

Arbeiterinnen in der Fabrik eines chinesischen Smartphone-Herstellers. Die Produktion der Geräte verursacht den größten Anteil am CO₂-Ausstoß.

(Foto: Wan shanchao/Imaginechina)

Hauptsache digital und alles wird gut? Von wegen. Studien zeigen, dass vom positiven Effekt der neuen Technik auf die CO₂-Bilanz wenig übrig bleibt.

Von Helmut Martin-Jung

Videokonferenz statt Kurzstreckenflug, Home-Office statt Pendeln zur Arbeit, mit dem Internet verbundene Heizungen, vernetzte Produktion und vieles andere mehr - die Hoffnungen sind groß, dass mit zunehmender Digitalisierung Treibhausgase eingespart werden können. Auf bis zu 20 Prozent Einsparungspotenzial könne sich das summieren, haben verschiedene Studien vorgerechnet. Der Digital-Verband Bitkom kommt sogar zu dem Schluss, 58 Prozent des Klimaziels der Bundesregierung bis 2030 könnten alleine mit beschleunigter Digitalisierung erreicht werden.

Aber stimmt das alles auch? Werden in diese Berechnungen auch alle Faktoren einbezogen? Dieser Frage sind das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim zusammen mit dem Borderstep Institut für Innovation und Nachhaltigkeit sowie Forscher im Auftrag des Umweltbundesamtes nachgegangen. Die Bilanz ihrer Studien ist ernüchternd: Der Beitrag der digitalen Transformation ist erheblich kleiner als gedacht. Und dabei geht es gar nicht einmal um Digitalwährungen wie den Bitcoin. Der verbraucht pro Jahr um die 130 Terawattstunden Strom - ganz Deutschland gut 540.

Woran liegt es also, dass von den angenommenen Einsparungen in der Gesamtbilanz nur wenig übrig bleibt? Die Hauptgründe: Informations- und Kommunikationstechnik bewirken zum einen meist eine höhere Nachfrage. Zum anderen entstehen die Treibhausgase oft nur an anderer Stelle, wenn digitale Lösungen eingesetzt werden, etwa in Billiglohnländern. Und schließlich reicht es nicht aus, wenn es lediglich die Möglichkeit gibt, CO₂ zu sparen - man muss sie auch nutzen.

Es brauche eine "entschlossene Politik", fordern die Autoren der Studie

Das zeigt sich beispielsweise beim Thema Reisen. Obwohl die Technik es schon seit vielen Jahren ermöglichte, sich in Videokonferenzen zu treffen, stiegt die Zahl von Dienstreisen zwischen 2004 und 2019 um 30 Prozent an, heißt es in der Borderstep-Studie. Erst als es die Pandemie schlicht unmöglich machte, sich persönlich zu treffen, wurde die lange gelebte Routine durchbrochen. Heute halten auch Menschen, die viel geschäftlich gereist sind, etwa jede dritte Dienstreise für vermeidbar.

"Deutlicher kann es kaum werden, dass erst ein klarer Anstoß durch Regelungen Win-win-Situationen erkennbar macht und ihre ökologischen wie ökonomischen Potenziale erschließt", argumentieren die Autorinnen und Autoren der Studie. Sie folgern, dass es eine "entschlossene Politik" brauche, um die Klimaschutzpotenziale der Digitalisierung zu heben. So könnten beispielsweise die ohnehin umstrittenen steuerlichen Vergünstigungen für Dienstautos in Frage gestellt werden.

Überall werden aber auch entschlossenes Handeln und strenge Regeln nicht helfen. Beim verwandten Thema Home-Office zum Beispiel. Dabei scheint die Sache zwar im ersten Moment klar zu sein: Wer zu Hause schafft, muss nicht zur Arbeit fahren. Das aber verkenne die Komplexität des Problems. Eine Fahrt diene schließlich nicht immer nur einem Zweck. Da werden auch Kinder in die Schule gebracht oder die pflegebedürftigen Eltern besucht. Bei einer Umfrage für die Studie erwartete nur ein Viertel der Befragten, weniger fahren zu müssen, bei knapp der Hälfte werde alles beim Alten bleiben und knapp ein Fünftel rechnet sogar damit, mehr fahren zu müssen.

Digitale Heizungen haben nur einen geringen Effekt

Relativ gering ist auch der Einspareffekt bei digitalen Heizungssteuerungen. Diese können beispielsweise die Leistung drosseln, wenn die Sonne scheint oder sie überwachen die Effizienz der Heizungsanlage. Das bringt zwar schon etwas, das Umweltbundesamt kommt in seiner Studie auf etwa zehn Prozent an Energieeinsparung. Davon wird ein Teil allerdings wieder aufgefressen von der Ökobilanz der elektronischen Geräte, die man dafür braucht. Zudem seien solche Einrichtungen derzeit noch Nischenanwendungen. Auch wenn zum Beispiel alle Mehrfamilienhäuser in Deutschland damit ausgestattet wären, trüge eine Wetterprognosesteuerung nur rund 3,6 Prozent zu der Einsparung bei, die bis 2030 im Gebäudesektor erreicht werden soll, bilanziert das Umweltbundesamt.

Aber immerhin brauchen doch Laptops, Tablets und Smartphones viel weniger Strom als die alten PCs von früher, oder? Das stimmt zwar, doch weil die Nutzer inzwischen sehr viel mehr damit machen als früher und Smartphones und Co. auch schneller ersetzen als die alten Computer, ist die CO₂-Bilanz insgesamt nicht gut. Das Datenvolumen steigt ständig an, um sie zu befördern, ist eine aufwendige Infrastruktur nötig, von den Netzwerkgeräten bis hin zu den Rechenzentren, von wo aus zum Beispiel Streaminganbieter ihre Daten ausliefern. Ein Tablet beispielsweise verbraucht zehnmal mehr Energie in Rechenzentren und Netzen als am Endgerät selbst. Die Daten - etwa Videos - werden oft auch noch mit hoher Auflösung gesendet, obwohl man auf vielen Geräten keinen Unterschied sieht. Die meiste Energie aber geht für die Herstellung drauf. Die findet meist nicht in Deutschland statt. Der Atmosphäre aber ist es egal, wer das Treibhausgas produziert.

An vielen veröffentlichten Studien zur Klimawirkung der Digitalisierung üben die Autoren der ZEW/Borderstep-Studie Kritik. Mit "vergleichsweise geringem Aufwand und auf Basis wenig belastbarer Annahmen" würden dabei theoretische Reduktionspotenziale ermittelt, "ohne dabei die komplexen Systemzusammenhänge zu berücksichtigen". Sie fordern die Politik auf, grundsätzliche Spielregeln zu entwerfen. Nachhaltigkeit und Klimaschutz müssten zum Mainstream der Digitalisierung werden. "Unsere Gesellschaft sollte mittlerweile aus der Phase heraus sein, wo sie große Branchen und klimabelastende Massenphänomene unbedacht entstehen lassen kann."

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