Süddeutsche Zeitung

Digitaler Tourismus:Virtuell durch Ludwigs Königreich

Ein ehemaliger Computerspiel-Experte digitalisiert bayerische Kulturschätze. Das hilft etwa Menschen, die nicht jedes Gebäude selbst erreichen können: Per VR-Brille sind sie trotzdem nah dran.

Von Marlene Thiele

Der Wintergarten auf der Münchner Residenz ist ein grünes Paradies: Zwischen Bananenstauden, Dattel- und Yuccapalmen stolzieren Pfauen und Flamingos, Schmetterlinge fliegen um Kakteen und bunte Orchideen herum, und die Luft ist erfüllt von den Geräuschen exotischer Vögel. Auf dem großen See in der Mitte schwimmt ein Schwan. Ein kleines Kanu am Ufer lädt dazu ein mitzuschwimmen. Doch wer hier ins Wasser fassen will, wird nicht nass. Die Idylle ist virtuell, jeder Farn und jeder Papagei nur eine Ansammlung bunter Pixel, von einer Software erzeugt und in eine VR-Brille übertragen.

Jürgen Dudowits verfolgt die künstlichen Erkundungsgänge durch die Residenz an seinem Computer: "In das indische Fürstenzelt da rechts kann man auch hineingehen. Drinnen befindet sich ein Phonograph, der Vorläufer des Grammofons." Es ist nicht schwierig, sich in der virtuellen Welt fortzubewegen. Mit zwei Controllern in den Händen lassen sich andere Orte anwählen, von jedem Standpunkt aus kann man sich in alle Richtungen umsehen. Der Phonograph im Inneren des Zeltes steht auf einem Stapel historischer Zeitungen, er spielt Musik, Kompositionen von Wagner. "Ludwig wollte in seinem tropischen Wintergarten dem Münchner Alltag entfliehen", sagt Dudowits über den bayerischen König. "Wir haben uns bei der virtuellen Rekonstruktion an Fotos und Bauplänen von damals orientiert." Weil der See undicht war, wurde die große Glaskonstruktion auf dem Münchner Stadtschloss und Königssitz kurz nach Ludwigs Tod 1886 abgebaut.

Es ist nur eines von vielen Bauprojekten des Märchenkönigs, die nicht mehr existieren oder nie umgesetzt wurden. "Ludwig war ein Visionär und war seiner Zeit technisch weit voraus", sagt Dudowits. "Zum Beispiel hatte er hat damals schon elektrisches Licht und hat den Bau des ersten lenkbaren Luftschiffs finanziert." Dudowits hat sich eingehend mit Ludwigs Leben und seinen Plänen befasst, für die der Bayernkönig schließlich für verrückt erklärt wurde.

Pro Tag besuchen Tausende Neuschwanstein real. Schon ihr Atem richtet Schaden an

Ein chinesischer Palast mitten in den Alpen, eine Seilbahn über dem Plansee - all das kann man nun zumindest virtuell besuchen. Für das Projekt "Virtuelles Bayern" baut Dudowits seit Anfang der Nullerjahre digitale Modelle von Ludwigs Visionen, ebenso wie von real existierenden Gebäuden. Ergeben hat sich das eher zufällig. Dudowits, 48, kommt eigentlich aus der Gaming-Branche. In den 1980er-Jahren programmierte er Computerspiele, arbeitete später als Dozent für Computergrafik und wurde schließlich beauftragt, das von Ludwig geplante, aber nie verwirklichte Schloss Falkenstein digital nachzustellen. Daraus ergab sich eine Zusammenarbeit mit Gerd Hirzinger, dem damaligen Leiter des Instituts für Robotik und Mechatronik am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, bei der die beiden die Münchner Altstadt zu zwei unterschiedlichen Epochen visualisierten. "Die alten Stadtpläne von München zerfledderten fast schon beim bloßen Anschauen", erinnert sich Dudowits. "Dasselbe passiert auch bei Baudenkmälern. Schloss Neuschwanstein zum Beispiel besuchen täglich Tausende. Sie tragen Nässe herein und dünsten aus. Schon der Atem richtet Schaden an."

Hirzinger und Dudowits begannen, gemeinsam mit Partnern, Baudenkmäler und kulturhistorisch interessante Landschaften zu digitalisieren und so dauerhaft haltbar zu machen. Wie Ludwig damals waren auch sie Pioniere: Einen Computer hatte noch längst nicht jeder Haushalt, und das Smartphone musste noch erfunden werden, da arbeiteten Hirzinger und Dudowits schon für die virtuelle Realität. Sie vermaßen, fotografierten, rekonstruierten am PC. "Das konventionelle, händische Nachbauen der Gebäude hat Monate gedauert." Dudowits erinnert sich vor allem an die komplizierten Stuckdecken barocker Kirchen oder Fenster mit verspielten Schmiedearbeiten. Inzwischen arbeiten sie mit einem Laserscanner, der in vergleichsweise kurzer Zeit einen Innenraum in ein Drahtgittermodell übersetzt, das am Computer mit einem dreidimensionalen Oberflächenmodell kombiniert wird. Das neue Verfahren geht schneller, das nachbearbeitete Ergebnis ist fotorealistisch.

Immer mehr Firmen spezialisieren sich auf erweiterte Realität

Der tropische Wintergarten hingegen wirkt noch etwas wie im Videospiel - ein bisschen zu bunt, zu kantig. Das 3-D-Modell ist schon ein wenig älter, und die Technik verbessert sich so schnell, dass man ihr jedes Jahr ansieht. "Die großen Unternehmen geben unheimlich viel Geld aus, um die Technologie zu verbessern. In diesem Jahr kommen viele neue Modelle auf den Markt, vor allem Mixed-Reality-Brillen, die die Realität um virtuelle Elemente erweitern", sagt Dudowits. "Noch steckt alles in den Kinderschuhen, aber in fünf bis zehn Jahren werden die Brillen viele Aufgaben des Smartphones übernehmen." Er meint damit die Funktionen, für die früher Telefone, Taschenkalender oder Heim-PCs nötig waren. "Zum Beispiel braucht niemand mehr einen Fernseher. Es genügt eine weiße Wand und eine Projektion auf der Brille. Die Arbeit, die Kommunikation und auch der Medienkonsum allgemein werden über die Brillen ablaufen." Momentan entstehen zahlreiche Firmen, die sich auf erweiterte Realität spezialisieren, ihre Einsatzbereiche: Lehre an Schulen und Universitäten, Prototyping und Prozesssteuerung in der Industrie, die Tourismus-Branche und eben Museen und historische Projekte, die das Dargestellte erlebbar machen. Dudowits ist mit seiner Digitalagentur VR Dynamix in verschiedenen Feldern tätig, doch Kultur und Geschichte sind zu seinem Herzensprojekt geworden. Aktuell kooperiert VR Dynamix mit dem Deutschen Museum. Sie haben 3-D-grafisch historische Maschinen in Bewegung gesetzt.

Parallel zu den anderen Projekten wird die Digitalisierung und Visualisierung historischer Baudenkmäler fortgesetzt, um Bayerns Kulturschätze zu bewahren und für jeden zugänglich zu machen. "Virtuelles Bayern" richtet sich an Architektur-Begeisterte, an potenzielle Touristen in der Ferne, ebenso wie an ältere oder körperlich behinderte Menschen. "Ludwigs Türkischen Saal im Schachenhaus kann erst besichtigen, wer drei Stunden einen Berg hinauf gewandert ist. Das ist für viele gar nicht möglich." Jürgen Dudowits hat keine Angst, dass irgendwann auch die jungen und fitten Besucher ausbleiben könnten, weil sich das Leben nur noch hinter Brillengläsern abspielt. "Ich glaube nicht, dass die Leute daheimbleiben, weil sie etwas schon einmal virtuell gesehen haben. Das Spannendste ist doch die Realität."

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Quelle:
SZ vom 04.04.2018
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