Der Mann könnte im Zirkus auftreten. Wie er da steht, auf einem Bahnsteig im New Yorker Untergrund und mit Möbeln auf der Spitze seiner Finger jongliert. Hier ein Sofa, da ein Sessel und noch dazu ein paar Stühle fliegen durch die Luft. Schwerelos sieht das aus, ja geradezu magisch. Doch die Menschen gehen einfach an ihm vorbei, niemand schenkt ihm Beachtung.
Es ist dann, wie so oft in der Subway, doch nur Taschenspielerei. Möglich macht das Schauspiel die neue App eines bekannten Möbelherstellers, mit der die Produkte auf dem Smartphone-Display über die echte Welt gelagert werden können. Erweiterte Realität nennt sich das oder schicker ausgedrückt: Augmented Reality (AR). Die Abkürzung ist momentan schwer in Mode: Im Verlauf der letzten Monate veröffentlichte zuerst Facebook seine Entwicklungsumgebung AR Studio, es folgte Apple mit ARKit und schließlich Google mit ARCore.
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Was das bedeutet? Tiefensensoren und Beleuchtungsalgorithmen in modernen Smartphones ermöglichen es, virtuelle Figuren und Objekte möglichst realistisch in die echte Welt einzubetten, sie werden jetzt in realistischem Maßstab dargestellt und werfen sogar Schatten. Bislang benötigte es dazu spezielle Kameras, Linsen und Geräte. Spätestens seit Apple im September AR zum integralen Baustein des neuen iPhones erklärt hat, steht die Technologie bald einem Millionenpublikum zur Verfügung und auch Google will nicht weniger als 100 Millionen Android-Nutzer mit der erweiterten Realität beglücken.
Mit Pokémon Go wurde AR erstmal öffentlich wahrgenommen
Man solle damit zum Beispiel besser online einkaufen können, so die Tech-Konzerne. Weil man dann Klamotten digital auf den Körper tragen kann. Es gibt schon jetzt eine Menge Ideen, wie die neue Technologie bekannten Medienkonzernen zu noch mehr Durchschlagskraft verhelfen soll. Von den Jedi-Rittern, die im Wohnzimmer zum Lichtschwert-Duell antreten, bis hin zu den Zombies aus "The Walking Dead", die in der Fußgängerzone Jagd auf den Smartphone-Nutzer machen.
Die Seite madewitharkit.com sammelt Beispiele, inwieweit sich die Realität erweitern lässt. Man sieht Zeichentricktiere durch echte Wohnungen laufen, in tristen Seitenstraßen öffnen sich Portale zu tropischen Tempelanlagen und niedliche Roboter hüpfen auf Schreibtischen umher.
Einem größeren Publikum wurde Augmented Reality im letzten Jahr durch das Smartphone-Spiel Pokémon Go bekannt. Auf einmal waren die Straßen und Plätze voll von Leuten auf der Suche nach digital animierten Monstern, die nur sie selbst sehen konnten. Die üblichen Mahner warnten vor technik-induzierten Halluzinationen und sowieso mal wieder vor allgemeiner Verdummung.
Wer verhindert, dass die Technologie missbraucht wird?
Die Frage ist ja durchaus erlaubt: Wenn schon jetzt Internet-Meme Wahlkämpfe beeinflussen und Fake-News-Webseiten weltweit populistische Strömungen befeuern können, was passiert dann, wenn digitale Inhalte endgültig mit der Realität vermischt werden? Nicht umsonst sprechen die Firmen ja auch von Mixed Reality.
Geht die Unterscheidung zwischen echt und unecht irgendwann endgültig verloren? Ist sie überhaupt noch zeitgemäß? Und, das muss man ja leider auch immer fragen, wer verhindert eigentlich, dass die Technologie missbraucht wird? Was ist zum Beispiel mit Werbung? Müssen wir bald befürchten, im Supermarkt von Pop-up-Anzeigen verfolgt zu werden?
Es ist kein Wunder, dass unter kritischen Medienkünstlern schon seit längerer Zeit eine eigene Disziplin zu existieren scheint, deren einzige Aufgabe es ist, eine solche Zukunft möglichst bunt und düster zugleich auszumalen. Man kann diese Videos auf Youtube finden. Sie zeigen eine von Medien übersaturierte Welt, die Avatare von unzufriedenen Chefs und eifersüchtigen Liebhabern drängen sich in das Sichtfeld der Nutzer, Spam-Mails ploppen links und rechts am Wegesrand auf, trister Beton wird von üppigen Grünflächen überlagert, allerdings nur wenn man in der entsprechenden Umweltverschönerungs-App das dafür nötige Upgrade gekauft hat.
Auch Mark Zuckerberg wettet auf die erweiterte Realität
Die bislang vielleicht vielversprechendste Anwendung kommt nicht von den Multi-Milliarden-Konzernen sondern standesgemäß von einem Zwei-Mann-Start-up mit dem passenden Namen Mirage. Die Leute arbeiten an der Technik-Fata-Morgana von morgen. Mirage soll es den Anwendern erlauben, "durch die echte Welt zu kommunizieren", wie einer der Entwickler es ausdrückt.
Und wer jetzt anmerkt, dann könnte man ja auch einfach so miteinander sprechen, hat nicht ganz verstanden, um was es hier eigentlich geht. Nämlich darum, die leicht remix- und vor allem teilbaren Inhalte der sozialen Medien weg vom Display und hin in die Realität zu führen. Zeichnungen, Emojis, animierte Gifs schweben in der Luft und eine kleine Karte zeigt an, wo in der näheren Umgebung die virtuellen Graffitis zu finden sind. All das kann geteilt und geliked werden und so mehr Sichtbarkeit erhalten.
Wenn Facebook-Chef Mark Zuckerberg die Augmented Reality "die nächste große Computerplattform" nennt, deutet sich an, dass es um mehr gehen soll, als nur um schnöde Konsum- und Unterhaltungs-Apps. In seiner Vorstellung werden viele physikalische Objekte dann schlichtweg überflüssig.
"Man braucht keinen echten Fernseher, sondern kauft sich einfach eine Ein-Dollar-TV-App und platziert sie an der Wand", stellt sich Zuckerberg die Zukunft vor und man kann dieses Beispiel schön weiterspinnen. Wozu noch Knöpfe, um die Lampe anzuschalten, wenn es eine digitale Schnittstelle auch tut? Ja, wozu noch Lampen, wenn doch eine künstlich eingeblendete Lichtquelle ausreicht? Alles gesetzt den Fall, dass man die entsprechende Facebook-AR-Hardware vor den Augen trägt.
Allen Produkten ist gemein, dass sie ihre Träger wie Trottel aussehen lassen
Bei all der Utopie stellt sich nur noch eine vergleichsweise banale Frage: Wie bekommt man die erweiterte Realität eigentlich vor die Augen, ohne die ganze Zeit umständlich das Smartphone vor die selben zu halten? Es gibt da diverse Ideen. Sie reichen von Glühbirnen, die als Projektoren dienen sollen bis hin zu komplizierten Brillenkonstruktionen, bei denen man das Smartphone mit dem Display voraus an die Stirn geschnallt bekommt. Dessen Bild würde dann mittels Spiegeln in das Sichtfeld projiziert werden. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Träger wie Trottel aussehen lassen. Wirklich alltagsfähige Produkte, da sind sich auch die hart gesottensten Technik-Optimisten einig, seien noch ein paar Jahre entfernt.
Aber da ist auch noch Magic Leap, jenes geheimnisvolle AR-Start-up, das in den letzten Jahren von zahlreichen IT-Konzernen und Investmentfirmen mit Milliardensummen ausgestattet wurde, aber bis auf ein paar, mit raffinierter Tricktechnik aufgehübschte PR-Videos noch nichts vorgezeigt hat.
"Unser System wird der erste Schritt zu einem echt coolen Traum sein", schrieb der Gründer Rony Abovitz unlängst auf seinem Blog. "Von fliegenden Eichhörnchen und Urzeitkrebsen und von durch Regenbögen angetriebenen Einhörnern. Alle von uns werden den gleichen Traum träumen." Innerhalb der nächsten sechs Monate, hat das Unternehmen nun angekündigt, soll eine erste Hardware erscheinen. Es klingt fast wie eine Drohung.