Die Recherche zum Koalitionsvertrag:So viel Agenda 2017 steckt in der schwarz-roten Arbeitsmarktpolitik

Agenda 2017 Arbeit

Mehr Geld für 5,6 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland: Der Mindestlohn war eine der zentralen Forderungen der Agenda 2017.

(Foto: dpa)

Mindestlohn und Verbesserungen für Leiharbeiter: Die große Koalition will den Arbeitnehmern in Deutschland Gutes tun. Aber tut sie auch genug? Wir haben den Koalitionsvertrag und die Agenda 2017 der SZ.de-Leser verglichen.

Von Sabrina Ebitsch

Eines der größten Reformvorhaben der potenziellen neuen Regierung war keine große Überraschung mehr. "Es gibt keine große Koalition mit der Zustimmung der SPD ohne einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn", hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel als Leitlinie ausgegeben. Dass der Mindestlohn eingeführt wird, zeichnete sich bald ab. Nur wie er gestaltet wird, das war bis zum Ende der Koalitionsverhandlungen offen.

Die 8,50 pro Stunde sind nun ein Pfund, mit dem die SPD beim laufenden Mitgliederentscheid wuchern kann - und auch muss, denn für viele Genossen ist der Mindestlohn das wichtigste Argument, der großen Koalition trotz Bauchschmerzen den Segen zu geben. Bis Donnerstag, 24 Uhr, läuft die Abstimmung. Auch in der entsprechenden Diskussionsrunde zur Agenda 2017 von SZ.de war der Mindestlohn für viele Teilnehmer einer der entscheidenden Punkte. Wie genau er und viele weitere arbeitsmarktpolitische Themen im Koalitionsvertrag (PDF) angegangen werden, haben wir mit den Forderungen der Agenda 2017 verglichen, die Experten und SZ.de-Leser über mehrere Wochen nach der Wahl entwickelt haben.

Wie wird der Mindestlohn umgesetzt?

1,3 Millionen Menschen in Deutschland müssen aufstocken, sind also zusätzlich zu ihrem regulären Gehalt auf Sozialleistungen angewiesen, weil sie weniger verdienen als das Existenzminimum. 2,7 Millionen gehen zusätzlich einem Minijob nach, weil ihr reguläres Gehalt nicht ausreicht. Das ist die Ausgangslage, angesichts der die Koalitionäre "Gute Arbeit für alle - sicher und gut bezahlt" versprechen. Der Mindestlohn musste da ein wichtiger Baustein sein.

Allerdings kommt er erst 2015, nicht schon vom nächstem Jahr an, wie es sich die SPD gewünscht hätte. Außerdem behalten laufende Tarifverträge mit niedrigeren Löhnen - immerhin 41 bundesweit - bis 2016 ihre Gültigkeit. Das betrifft eben jene Branchen, in denen ein Mindestlohn am nötigsten wäre. Flächendeckend wird es den Mindestlohn also erst ab 2017 geben. Schon ist von einem "Mindestlohn light" die Rede, der bei nicht wenigen für Enttäuschung sorgt.

Trotzdem ist das für viele Kritiker der derzeitigen Situation in Deutschland, die sich auch in unserer Online-Debatte zu Wort meldeten, bereits ein großer Erfolg, zumal es 5,6 Millionen schlecht bezahlte Arbeitnehmer gibt, deren Stundenlohn dadurch in den nächsten Jahren steigen wird. Immerhin ist Deutschland einer der letzten Staaten in Europa, der sich zu einer solchen Regelung durchringen konnte. Und bei den 8,50 Euro muss und wird es wohl auch nicht bleiben, denn von 2018 an kann die Höhe auf Empfehlungen einer Kommission der Tarifpartner hin angepasst werden.

Mögliche negative Auswirkungen des Mindestlohns, die in der SZ.de-Runde ebenfalls zur Sprache kamen, bleiben abzuwarten - Entlassungen und Standortverlagerungen ins Ausland etwa, wovor Arbeitgebervertreter wiederholt gewarnt haben. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt drohte bereits mit einer Klage und konstatierte, ein Mindestlohn führe in der Tendenz zu Arbeitsplatzvernichtung. "Die Chancen des flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns überwiegen die Risiken von Arbeitsplatzverlusten", sprach allerdings die Kanzlerin ihr Machtwort.

Getan ist es mit der Einführung des Mindestlohns allerdings längst noch nicht: Er ist ein arbeitsmarktpolitisches Instrument unter vielen, das wohl nur unwesentlich zur Reduzierung der Armut insgesamt beitragen wird, zumal die Steuern über die kalte Progression das Plus auf dem Konto bei vielen Betroffenen wieder auffressen dürften. Auch staatliche Leistungen entfallen womöglich, so dass am Ende der finanzielle Unterschied gegenüber vorher gering bleibt. Nicht nur deswegen werden auch weiterhin Hunderttausende aufstocken müssen. Sie bleiben auf staatliche Unterstützung angewiesen, weil auch der Mindestlohn nicht ausreichen wird, damit sie sich ihr Leben und/oder das ihrer Familie in ausreichendem Maß finanzieren können.

Kaum für möglich gehaltene Verbesserungen für Leiharbeiter

Durchsetzen konnte sich die SPD allerdings mit einigen Forderungen nach Verbesserungen bei prekären Beschäftigungsverhältnissen, die sich in Teilen auch mit der Agenda 2017 decken. Verbesserungen wird es beispielsweise für Leih- und Zeitarbeiter sowie bei den Werkverträgen geben - immerhin etwas, was der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Michael Sommer, "anfangs kaum für möglich gehalten" hätte.

Die Leiharbeit etwa will die Koalition "auf ihre Kernfunktionen hin orientieren" und damit stärker regulieren: Beschäftigte sollen nach spätestens neun Monaten dieselbe Bezahlung wie Festangestellte bekommen - ebenfalls eine Forderung aus der Diskussionsrunde. Allzu viele werden davon aber nicht profitieren, da die Hälfte der Leiharbeiter ohnehin nicht länger als drei Monate in einer Firma eingesetzt wird.

Außerdem soll grundsätzlich nach 18 Monaten Schluss sein: Länger darf ein Unternehmen einen Leiharbeiter künftig nicht mehr ununterbrochen beschäftigen. Allerdings können über Tarifverträge andere Regelungen getroffen werden. Werkverträge sollen stärker auf möglichen Missbrauch hin geprüft werden, der Betriebsrat wird in diesem Zusammenhang besser informiert. Das ist zwar insgesamt weniger als das, was im Chat zum Thema diskutiert wurde - etwa gleicher Lohn für alle, von Anfang an. Aber nichtsdestotrotz ein Fortschritt.

Bei aller Kritik, sei es von jenen, denen es nicht weit genug geht, oder jenen, denen es zu weit geht - die Arbeitsmarktpolitik ist wohl das Feld, in dem sich am meisten ändern könnte. Wenn die Großkoalitionäre ihren Plänen treu bleiben, kann sich für viele Arbeitnehmer viel verbessern. Nicht genug aus Perspektive der Agenda 2017 und derer, die daran mitgearbeitet haben, aber unterm Strich weit mehr als etwa bei der Steuer- oder Bildungspolitik.

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