Süddeutsche Zeitung

Luftfracht zu Corona-Zeiten:Nichts wie raus aus Schkeuditz City

Während Menschen wegen Corona zu Hause bleiben, fliegen Frachtgüter weiter um die Welt. Große Teile werden in einer Stadt in Nordsachsen umgeschlagen. Ein Zustellbesuch bei Nacht.

Von Cornelius Pollmer

Die Nacht wirkt dunkler als sonst, viel dunkler, aber was weiß man schon noch von der Nacht. Viel zu lange her, dass man sie draußen selbst erlebt hat, und hier, am Stadtrand von Leipzig, ja gleich zehn Mal nicht. Es ist gerade mal zehn Uhr an einem Dienstagabend Ende April, vermutlich war am Ortseingang der "Großen Kreisstadt Schkeuditz" schon vor Corona um diese Zeit nicht viel los, in einer Gegend nämlich, where the streets still have names, in der aber schon die Versorgungslage mit Hausnummern als angespannt eingestuft werden kann. "Gesnerstraße, Schkeuditz", diese Koordinaten waren durchgegeben worden, und so biegt man ein, auf eine sich windende Bahn, und sieht schließlich eine gewaltige Anlage gelb aufleuchten, die Schkeuditz, kein Witz, in einer globalen Liga noch vor Hongkong und Cincinnati rangieren lässt.

Drei globale Hubs unterhält der Logistiker DHL, und ließe man sie gegeneinander antreten, der Flughafen mit dem Kürzel LEJ in Leipzig im Sinne von Schkeuditz gewönne in fast allen Parametern. 655 Millionen Euro Gesamtinvestition, 602 000 Quadratmeter Vorfeldfläche, Sortierkapazität 150 000 Sendungen pro Stunde.

Nun sollen zwar die Menschen wegen Corona zu Hause bleiben, lange genug, ja sogar tagsüber. Fracht aber fliegt weiter um die Welt, und wenn einem der Begriff "Globalisierung" immer ein bisschen abstrakt erscheint, im Verlaufe einer Nachtschicht Ende April am Hub in Schkeuditz wird er ziemlich konkret, auch in Bezug auf die Auswirkungen der Pandemie.

Der erste Verdacht keimt noch vor dem Drehkreuz am Eingang. Die Tafel mit dem "Security Alert Level" steht auf Gelb und nicht auf Grün, aber das ist nicht erst seit Corona der Fall, sondern seit dem 11. September 2001. Neu aber sind die kleinen Fußstapfen, die auf dem Boden kleben. Es gibt sie schon lange auf den 87 000 Quadratmetern Terminalfläche, um per Vorschrift jene Laufwege zu markieren, auf denen die Gefahr, von einem Stapler umgegabelt zu werden, gegen null geht.

Neu sind dagegen die Fußstapfen im Check-in für die Mitarbeiter, die ihr Tages- respektive Nachtgepäck in durchsichtigen Boxen und Rucksäcken zum Dienst mitbringen, um die Sicherheitskontrollen zu beschleunigen. Diese Fußstapfen markieren den Abstand, der bitte zueinander einzuhalten sei, und so bekommt man praktischerweise schon mal einen Eindruck, wie sich auch der Security Check im Passagierverkehr künftig ändern könnte.

80 Prozent der eingeflogenen Waren verlassen Leipzig wieder auf dem Luftweg

Üblicherweise nutzt DHL diesen Passagierverkehr, um einen Teil seiner weltweiten Aufträge abzuwickeln. Sein weitgehendes Erliegen hat bei Ralph Wondrak und Peter Wiegand in der Geschäftsführung des Hubs in Leipzig einigen Arbeitsanfall bewirkt. Der Nachtspaziergang mit ihnen beginnt in einem Raum, den DHL "Network Control Center" nennt, und in dem sich Bildschirme zu einer so riesigen Fläche kombinieren, dass man ganz kurz nun doch einmal die Bundesliga und den Live-Fußball vermisst.

Auf einer der Schirmparzellen bewegen sich langsam kleine gelbe Flugzeuge über eine fast stumme Karte, sie alle ruckeln in Richtung des kleinen Punktes, neben dem LEJ steht, wie bekiffte Motten, die sich extrem langsam zu einer Lichtquelle aufmachen, die sie gerade entdeckt haben.

Logistik hat viele Facetten, dazu gehört etwa die Frage, in welchem Umfang Anwohnern und Umwelt vor allem Nachtflüge zuzumuten sind und wie auskömmlich die bis zu 2000 Arbeitskräfte entlohnt werden, die in einer Nacht am Flughafen Leipzig-Halle antreten. Ein Blick auf den Radarschirm weckt gleichwohl diese Faszination, die von Logistik ausgeht. Mehr als 500 Flughäfen auf der Welt fliegt allein DHL an, 220 Länder gehören zum Liefernetzwerk, und noch die ungünstigste Kombination zweier Punkte aus diesem Netz ist mit fünf, maximal sechs Stopps anzusteuern. Mehr als 260 Flugzeuge bewerkstelligen diese längeren Etappen. Allein in dieser Nacht erreichen 65 Flüge Sachsen. Sie kommen aus Amsterdam, aus Warschau, aus Los Angeles - als Paket hat man in LEJ deutlich mehr Möglichkeiten als ein Mensch, da war man schon vor Corona froh, wenn am Flughafen wenigstens eine S-Bahn ins Stadtzentrum fuhr.

Ralph Wondrak sagt, 414 000 Sendungen würden in dieser Dienstagnacht umgeschlagen, ein durchschnittlicher Wert - und durchschnittlich heißt, dass die Schwankungsbreiten geringer ausfallen, als man sich das landläufig vorstellen würde. Der Peak liegt stets, natürlich, in der Woche vor Weihnachten, in den Tagen danach und speziell zum Jahreswechsel geht es so ruhig zu wie sonst das ganze Jahr nicht.

80 Prozent der Sendungen verlassen Schkeuditz jede Nacht gleich wieder auf die gleiche Art, wie sie gekommen sind, per Luft. 20 Prozent fließen ab, denn, so Peter Wiegand, "alles bis 400 Kilometer Umkreis geht auf die Straße, um den Nachtsprung zu schaffen". Hinter diesem zweifellos poetischen Begriff steht die nachvollziehbare Logik des Speditionswesens, Güter über Nacht von A nach B zu bringen, da die Transportwege tagsüber sonst oft mit Menschen voll sind. In einer Nacht am LEJ hingegen stehen Mensch und Waren nicht in Konkurrenz zueinander, eher wimmeln sie permanent durcheinander, orchestriert von Frachtmaschinen, Transportcontainern und Sortieranlagen.

Es ist ja so, dass es für die unterschiedlichen Flugzeugtypen unterschiedlich zugeschnittene Frachtcontainer gibt, die jeweils in aller Regel mehr als eine Tonne Waren fassen, die von den Flugzeugen erst über das Rollfeld gefahren und dann, im Terminal, vor der Entladung von Menschen über ein Rollenfeld geschoben werden. Wer je ein Handtuch unter das schwere Regal gelegt hat, um es übers Parkett bewegen zu können, weiß um das Wunder der Reduktion von Widerstand.

Nachtsprung, das bedeutet in Schkeuditz auch, dass bis 1.30 Uhr alle Maschinen den Flughafen im Idealfall erreicht haben und dass sie sich bis zum Morgen auch wieder aus dem Staub gemacht haben sollten. Der kurze Aufenthalt in LEJ beginnt für die Sendungen auf einer imposanten Hebebühne, die auch in einem Endzeitschocker mitspielen könnte, in dem die Maschinen den Menschen endlich von seiner einigermaßen vermasselten Weltherrschaft befreien. Sobald diese wuchtige Hebebühne ihren Dienst aufnimmt, kommt einem der Countdown gleich weniger unrealistisch vor, der beispielsweise gerade auf Stellplatz D471 aufleuchtet: In etwa 30 Minuten soll der riesige Bauch der Boeing leergeschlagen werden.

Was mit den Sendungen dann im Terminal passiert, ist mit Zahlen besser zu begreifen als mit bloßem Auge: 2000 Tonnen Fracht werden hier pro Werktag verladen, die Sortieranlagen erreichen eine Gesamtstrecke von 46,6 Kilometern. Nach Mitternacht erreicht die weltweite Warenwirtschaft ihre Rushhour, in einer von Computern organisierten und für das menschliche Auge chaotischen Ordnung geraten Menschen, Container, Gabelstapler, Paletten immer wieder neu durcheinander. Pakete mit Weinflaschen rauschen durch die Gegend, Autoteile, Urkunden und derzeit verstärkt natürlich Medizinprodukte.

Seit Beginn der Corona-Pandemie ist das Aufkommen an Fracht mit Medizingütern stark gestiegen

Vor Corona, heißt es bei DHL, seien Masken und Schutzkleidung weder Kandidaten für den Express- noch für den Luftfrachtversand gewesen. Niedriger Warenwert, langfristige Beschaffungsroutinen - das bedeutete in aller Regel den Transport per Schiff. Derzeit aber sind etwa zehn Prozent der von DHL aus Asien importierten Fracht medizinische Güter. Weil die Nachfrage aus bekannten Gründen plötzlich und stark gestiegen ist und mit ihr die Dringlichkeit.

Aktuell transportiert DHL am häufigsten Masken, gefolgt von Tests und Handschuhen. Hinzu kommen Labormaterialien und vermehrt auch Beatmungsgeräte. Während die Waren mit den niedrigeren Werten "nahezu ausschließlich aus China" hereinkommen, sind zum Beispiel bei den Tests auch viele Industrieländer dabei. Nicht zuletzt gestiegen ist auch die Zahl eigener Maschinen. Eben weil Frachtkapazitäten für Beiladung in Passagiermaschinen massiv zurückgegangen sind, stellte DHL auf eigene und teils auch auf zusätzlich gecharterte Kapazitäten um. Derzeit erreichen das Drehkreuz LEJ deswegen aus Asien zwischen 15 und 20 zusätzliche Flüge - pro Woche.

Solche Entwicklungen machen sich dann nicht mehr nur in der Statistik bemerkbar, sondern auch bei den Mitarbeitenden. Mehr als 6000 sind es am Standort insgesamt, und nicht wenige davon tragen bei der Arbeit wie Sandra Trojahn, 24, einen kleinen Scanner um Zeige- und Ringfinger einer Hand. So bleiben beide Hände einigermaßen frei, um die von der Sortieranlage ausgespuckten Pakete in den hinter ihr anliegenden Frachtcontainer zu verladen. So schlau und fähig ist die künstliche Intelligenz ja noch nicht, dass sie viele Pakete mit unterschiedlichen Packmaßen besser als der Mensch in den Frachtcontainern stapeln könnte. Also erledigt das Sandra Trojahn. Sie sagt wie aus dem Mitarbeiterlehrbuch, sie wolle "jede Sendung mit Respekt" behandeln, oft schaue sie dabei gar nicht aufs Etikett, aber ja, "man merkt schon, dass es jetzt mehr Medizinprodukte geworden sind".

Seit Mitte März arbeiten Trojahn und ihre Kollegen physisch distanziert zueinander. Als ein früher Marker agierte gewissermaßen der Sohn von Peter Wiegand, der in Baden-Württemberg lebt, wo Corona früher ankam als im deutschen Osten. "Da haben wir gesagt, wir machen jetzt hier lieber gleich mal eine Welle und haben dann gut die Hälfte der Mitarbeiter in andere Teile des Hubs verlagert", sagt Wiegand. Und so kamen auch die Abstands-Fußstapfen-Aufkleber auf den Boden, zudem gibt es Führungskräfte, die als "Corona-Lotsen" durch die Anlage laufen und bei Bedarf Verhaltenshinweise geben. Anders als in vielen anderen Bereichen des täglichen wirtschaftlichen Lebens gab es auch deswegen im Netzwerk des Logistikers bislang keinen harten Ausfall. Und wenn es doch mal Probleme gab, wie wenig überraschend am Flughafen in Bergamo, so konnten sie im Network Control Center in Leipzig Wege über andere Knotenpunkte des Netzwerkes suchen.

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So ruckeln die kleinen Icons auf dem Bildschirm im Tower also nach ein paar Stunden wieder davon, nach Madrid oder Kiew, nach Neapel oder Oslo oder gleich ganz woanders in der Welt, Nacht für Nacht. Während es am Passagier-Terminal des Flughafens Leipzig-Halle gerade ein Ereignis ist, wenn zumindest mal eine Maschine mit Erntehelfern aus Rumänien landet, ist das Frachtkreuz von DHL seit 2007 in Größe und Belegschaft so schnell gewachsen, dass der Mitarbeiterparkplatz längst nicht mehr für alle reicht. Am Morgen fahren viele von ihnen über die Gesnerstraße wieder davon, auf zu einem letzten großen Nachtsprung, direkt ins heimische Bett.

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Quelle:
SZ vom 09.05.2020/mxh
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