Süddeutsche Zeitung

Hartz-IV:Kinderarmut nimmt in Deutschland wieder zu

Die Zahl der armen Kinder in Deutschland wächst: Mehr als 1,6 Millionen Jungen und Mädchen unter 15 Jahren leben von Hartz IV. Bei Kindern, die direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren werden, ist das Risiko hoch, dass sie dauerhaft hilfsbedürftig bleiben.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD befasst sich mit so ziemlich allem, was die Welt bewegt. Selbst Randthemen in der politischen Diskussion wie "selbstbestimmtes Älterwerden", Heimatvertriebene oder der Zivilschutz werden darin gestreift. Um so erstaunlicher ist, dass das Wort Kinderarmut in dem 138 Seiten starken Werk überhaupt nicht auftaucht - und das, obwohl die Zahl der Kinder, die auf Hartz IV angewiesen ist, zuletzt wieder zugenommen hat.

2007 lebten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Durchschnitt 16,8 Prozent der unter 15-Jährigen in Hartz-IV-Haushalten. Der Wert sank bis 2012 auf 15 Prozent, was die Arbeitsagentur als Erfolg wertete. Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der BA, sagte damals: "Weniger Kinder in Hartz IV bedeutet, dass es den Jobcentern gelungen ist, ihre Eltern in Beschäftigung zu integrieren." Mittlerweile geht der Trend wieder in die andere Richtung.

Während die Zahl der Hartz-IV-Empfänger seit 2012 bei etwa 6,1 Millionen konstant geblieben ist, hat sich die Hilfequote bei den Kindern unter 15 Jahren erhöht. Im Mai 2014 lag sie bei 15,7 Prozent. Für viele der 1,64 Millionen Jungen und Mädchen bedeutet dies: einmal Hartz IV, viele Jahre Hartz IV. Dies zeigt eine neue Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die der DGB-Arbeitsmarktexperte Wilhelm Adamy vorgelegt hat. Darin schlägt der DGB ein Aktionsprogramm für Eltern vor, die zusammen mit ihren Kindern schon länger von Hartz IV leben müssen.

Laut der DGB-Studie erhalten derzeit mehr als 1,2 Millionen unter 15-Jährige seit mindestens einem Jahr Hartz IV. 642 000 dieser Kinder sind sogar seit vier Jahren oder länger auf die staatliche Hilfe angewiesen. Vor allem bei den Jüngeren sei davon auszugehen, "dass sie direkt in Hartz-IV-Verhältnisse hineingeboren wurden. Damit ist das Risiko einer dauerhaften, quasi vererbten Hilfsbedürftigkeit hoch". Dieses Risiko nimmt mit der Zahl der Kinder zu: Bei Paaren mit drei oder mehr Jungen und Mädchen ist der Anteil der Hartz-IV-Bezieher, die die Leistungen lange Zeit beziehen besonders hoch.

Viele Eltern schaffen es nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern

Die Kinder leiden in so einer Situation nicht nur, weil das Geld fehlt. Die Gefahr sei auch erheblich, dass die Eltern als Vorbilder ausfallen, schreibt DGB-Experte Adamy. Keine Arbeit zu haben, könne "eine Abwärtsspirale von sinkendem Selbstwertgefühl, Sinnkrise und mangelnder sozialer Teilhabe in Gang setzen". Viele Eltern schaffen es dann nicht mehr, sich um die Kinder ausreichend zu kümmern.

Trotz vieler örtlicher Initiativen gibt es in Deutschland jedoch keinen übergreifenden Aktionsplan gegen Kinderarmut. "Es passt nicht zusammen, über Fachkräftemangel zu diskutieren und zugleich zuzulassen, dass etwa 1,9 Millionen Kinder unter 18 Jahren im Hinterhof unserer Wohlstandsgesellschaft in Hartz-IV-Armut leben müssen", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach der Süddeutschen Zeitung. Der DGB fordert deshalb ein Sonderprogramm gegen Kinder- und Familienarmut. Es soll sich zunächst auf die 450 000 Eltern konzentrieren, die arbeitslos gemeldet sind, Kinder im Haushalt haben, Hartz IV nicht mit einem Zusatzjob aufstocken und an keiner Maßnahme eines Jobcenters teilnehmen.

Solche Eltern müssten "eine neue berufliche Perspektive erhalten, auch um ihre Vorbildrolle gegenüber ihren Kindern zu stärken", verlangte Buntenbach. Dem DGB schwebt dabei vor, mehr geförderte Arbeitsplätze zu schaffen, "sofern eine Beschäftigung anders nicht möglich ist". Das Programm müssten Jobcenter, Kommunen, der Bund, Wohlfahrtsverbände und Vereine gemeinsam tragen.

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SZ vom 11.10.2014/afis
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