Süddeutsche Zeitung

Handel mit China:Mit Vollgas in die falsche Richtung

Ob Regierung oder Opposition - alle wollen die wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschlands von China verringern. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wenn es etwas gibt, auf das sich deutsche, amerikanische und andere westliche Politiker dieser Tage ohne jegliche Debatte einigen können, dann ist es die Forderung, dass ihre Länder die dramatische wirtschaftliche Abhängigkeit vom Systemrivalen China dringend reduzieren müssen. Das Problem ist nur: Im Falle Deutschlands nimmt diese Abhängigkeit nicht etwa ab, sie ist vielmehr im vergangenen Jahr auf das höchste Niveau aller Zeiten gestiegen. Oder wie es das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) am Donnerstag ausdrückte: "2022 hat sich der deutsche Außenhandel mit China mit voller Kraft in die falsche Richtung entwickelt."

Laut Statistischem Bundesamt stiegen die deutschen Warenimporte aus der Volksrepublik gegenüber 2021 von ohnehin hohem Niveau aus um mehr als ein Drittel auf 191 Milliarden Euro. Die Exporte nach China dagegen legten um lediglich drei Prozent auf 107 Milliarden Euro zu. Unter dem Strich ergab sich somit ein Rekord-Handelsdefizit von 84 Milliarden Euro - sechsmal so viel wie im Vor-Corona-Jahr 2019. Die Frage sei, "ob dahinter nur vorübergehende Krisenwirkungen oder anhaltende chinesische Wettbewerbsverzerrungen stecken", so IW-Ökonom Jürgen Matthes.

Der Trend steht im Widerspruch zu allen politischen Absichtserklärungen, die Berliner Regierungsvertreter seit Monaten formulieren. Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck etwa waren im Herbst eigens nach Südostasien gereist, um für eine stärkere Diversifizierung der deutschen Wirtschaft und die Erschließung neuer Zuliefer- und Absatzmärkte zu werben. Habeck ordnete zudem eine Neuordnung der Außenwirtschaftsförderung an mit dem Ziel, eine zu starke Konzentration hiesiger Unternehmen auf den chinesischen Markt zu verhindern.

Jeder achte Warenimport kommt mittlerweile aus China

Auch bei seinen jüngsten Treffen mit US-Regierungsvertretern in Washington spielte das Thema eine Rolle. Habeck schwebt die Gründung eines europäisch-amerikanischen "Rohstoffklubs" vor, der die Erschließung neuer Förder- und Einkaufsquellen für wichtige Metalle wie Lithium und Silizium vorantreiben soll. Bisher kommen Rohstoffe, die für die Herstellung etwa von Chips und Stromspeichern unabdingbar sind, teils zu 99 Prozent aus China. Die Pekinger Führung verfügt damit über ein massives potenzielles Druckmittel, das sie jederzeit für politische Zwecke missbrauchen kann.

Betrachtet man die deutschen Gesamtimporte, kommt mittlerweile im Schnitt jedes achte Produkt aus der Volksrepublik. 2019 war es noch jedes zehnte gewesen. Offen ist, ob der massive Anstieg der Einfuhren von Dauer sein wird. Matthes zufolge könnten die hohen Ausfuhren Chinas nach Deutschland auch mit dem Hin und Her in der Pekinger Corona-Politik zu tun haben. Dieses habe die heimische Nachfrage gelähmt und chinesische Firmen dazu veranlasst, viele Waren auf den Weltmärkten statt daheim zu verkaufen.

Umgekehrt gebe es aber auch längerfristige strukturelle Faktoren: So könnten chinesische Firmen günstige Preise bieten, weil viele Betriebe staatlich alimentiert würden. "Wenn hierzulande der Wettbewerbsdruck wegen der anhaltend hohen Energiepreise steigt und die Margen der deutschen Firmen schrumpfen, wachsen die Anreize, billigere chinesische Vorprodukte statt teurere europäische oder deutsche zu kaufen", erklärte der IW-Volkswirt.

Einzelne Unternehmensbeispiele deuten zudem darauf hin, dass chinesische Lieferanten auch deshalb gegenüber deutschen zum Zuge kamen, weil sie weniger von Lieferproblemen betroffen waren. Zwar dürften die Engpässe nicht von Dauer sein, so Matthes. "Aber wenn einmal ein Wechsel des Lieferanten erfolgt ist und dessen Leistung stimmt, dürfte es für das deutsche Unternehmen schwer werden, den deutschen Kunden wieder zurückzugewinnen."

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