Es sind nur vier Kurven. Sie zeigen von links unten nach rechts oben. Zwei von ihnen steigen steil an, machen je drei Knicke, um schließlich waagrecht auszulaufen. Die zwei anderen sind runder und flacher. Kaum zu glauben, dass man über vier solch eher schmucklose Kurven so viel streiten kann. Es kommt vor, dass eine Partei oder eine Regierung die Kurven etwas nach rechts versetzen, die Ecken abschleifen oder ihren Verlauf abflachen will, und sofort gibt es in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung. Das liegt daran, dass es an den Geldbeutel jedes einzelnen Bürgers geht, wenn sich die Kurven verändern. Vor allem kann es sein, dass die ganz unten dann anders belastet werden als die ganz oben. Es geht also um Gerechtigkeit.
Die vier Kurven beschreiben den deutschen Steuertarif. Aus ihnen lässt sich errechnen, wie viel Steuern den Bundesbürgern bei welchem Einkommen abgezogen werden. Zwei Kurven betreffen Singles, die beiden anderen Ehepaare, die gemeinsam steuerlich veranlagt sind. Das ist deshalb so, weil der Staat die Ehe mit niedrigeren Steuersätzen fördert. Was die Sache etwas kompliziert macht, ist der Unterschied zwischen dem Grenzsteuersatz und dem Durchschnittssteuersatz, der auch "effektiver Steuersatz" genannt wird.
Ein Beispiel für einen Single: Die ersten 8130 Euro seines zu versteuernden Jahreseinkommens tastet der Staat nicht an (für Verheiratete ist es doppelt so viel). Der Steuersatz darauf beträgt also null Prozent. Um das deutsche Steuersystem zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass diese 8130 Euro immer unangetastet bleiben, also auch bei einem Bürger, der Millionen verdient. Erst ein Einkommen, das darüber liegt, wird besteuert, und zwar mit dem Eingangssteuersatz von 14 Prozent. Danach steigt der Steuersatz linear an. Er wird auch Grenzsteuersatz genannt, weil damit der jeweils letzte Euro des Einkommens besteuert wird. Verdient jemand zum Beispiel genau 8131 Euro, wird nur ein Euro besteuert - mit 14 Prozent. Die gesamte Steuerschuld liegt demnach bei 0,14 Euro.
Ist die Progression hoch genug?
An dieser Stelle kommt der Durchschnittssteuersatz ins Spiel; er gibt die Steuerschuld bezogen auf das Einkommen an. Im Beispiel liegt er im homöopathischen Bereich, da die ersten 8130 Euro ja steuerfrei sind. Der Grenzsteuersatz steigt danach linear auf bis 24 Prozent bei einem Einkommen von 13.469 Euro. An dieser Stelle macht die Kurve einen Knick, der Anstieg wird flacher - bis hin zum Einkommen von 52.881 Euro, ab dem der Steuersatz von 42 Prozent gilt. (Darüber gibt es noch den Spitzensteuersatz von 45 Prozent ab 250.000 Euro Einkommen, die "Reichensteuer", die 2007 eingeführt wurde.)
Der deutsche Steuertarif wird "progressiv" genannt, weil für den jeweils höheren Teil des Einkommens ein höherer Grenzsteuersatz gilt. Je höher das Einkommen, umso mehr nähert sich der Durchschnittssteuersatz dem Grenzsteuersatz an. Er erreicht ihn aber nie ganz. Anders ausgedrückt: Niemand zahlt den Spitzensteuersatz von 45 Prozent. Die Progression ist unter Gerechtigkeitsaspekten ein wichtiger Punkt: Reiche zahlen nicht nur absolut mehr Steuern als Arme, sondern auch prozentual. Ein stetiger Streitpunkt aber ist, ob die Progression auch hoch genug ist.
Wie steht der deutsche Steuertarif im internationalen Vergleich da? "Er ist ungewöhnlich, weil er schnell steil ansteigt", sagt Joachim Englisch, Professor für Steuerrecht in Münster. "Das führt zu einer relativ hohen Belastung schon beim Mittelstand und bei gut verdienenden Arbeitnehmern." Die meisten anderen Industrieländer hätten einen Stufentarif, bei dem zum Beispiel Einkommen von 8000 bis 25.000 Euro mit 15 Prozent besteuert werden, bis 80.000 Euro mit 25 Prozent und darüber mit 35 Prozent.
Intransparent, aber gerechter
Die Folge: Die Steuerbelastung steigt mit zunehmendem Einkommen deutlich flacher an als beim deutschen Tarif. Steuer-Professor Englisch nennt diesen deshalb "fiskalisch deutlich ergiebiger". Ein weiterer Nachteil sei dessen Intransparenz: Da die Abstufungen sehr klein und zahlreich sind, könne man sich die eigene Steuerlast kaum selbst ausrechnen, anders als beim Stufenmodell. Es gibt aber auch einen Vorteil: Eben wegen seiner vielen Abstufungen sei er "individuell gerechter", sagt Englisch.
Die andere Frage der Gerechtigkeit ist jene, welches Einkommen überhaupt zur Besteuerung herangezogen wird, also die Bemessungsgrundlage. Sie ist weit schwerer zu klären, weil man damit im Irrgarten des deutschen Steuerrechts landet - bei den Ausnahmen, den Subventionen, der unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmern und Selbständigen. Das Grundproblem: "Eine Steuererleichterung ist schnell eingeführt, aber es ist schwierig, sie wieder abzuschaffen", sagt Englisch.